29.11.2024
Grenzenlose Zeiten Grenzenlose Widersprüche

Das Paradox der Grenzen in unserer Zeit

Der Slogan „Die Zeit der Grenzen ist vorbei“ suggeriert Aufbruch und unbegrenzte Freiheit. Die Realität zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild. Während für einige Grenzen tatsächlich fallen, erleben andere ihre Wiedererrichtung oder eine nie dagewesene Einschränkung ihrer Mobilität. Die Doppelstadt Gorizia (Italien) und Nova Gorica (Slowenien), die 2025 Europäische Kulturhauptstadt sein wird, verdeutlicht diesen Widerspruch besonders prägnant. Wie Uwe Pütz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) berichtet, passieren Autos die Grenze zwischen beiden Stadtteilen heute ohne jegliche Wartezeit. Ein Blick auf die Geschichte und die politischen Entwicklungen in Europa offenbart jedoch die Fragilität dieser scheinbaren Grenzlosigkeit.

Die Euphorie über offene Grenzen, die besonders Minderheiten im ehemals geteilten Schleswig nach dem Fall des Eisernen Vorhangs empfanden, erlitt einen jähen Dämpfer, als Dänemark 2016 aufgrund der Flüchtlingsströme wieder Grenzkontrollen einführte. Wie Walter Turnowsky im „Nordschleswiger“ schreibt, bedeutete die Ankündigung der deutschen Innenministerin Nancy Faeser im September 2024, ebenfalls Kontrollen an allen deutschen Grenzen wiedereinzuführen, das endgültige Aus für das freie Reisen innerhalb der EU. Obwohl diese Kontrollen offiziell als temporär deklariert werden, lässt die Begründung – der Schutz der EU-Außengrenzen – vermuten, dass sie von Dauer sein könnten. Turnowsky argumentiert, dass der Schutz der Außengrenzen aus Sicht der Regierungen niemals ausreichend sein wird, solange Armut, Klimawandel und Kriege Menschen zur Migration zwingen.

Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ist nicht nur eine Reaktion auf Migration, sondern auch auf innenpolitische Entwicklungen, wie das Erstarken rechter Parteien. Dies zeigt sich auch in der Argumentation der dänischen Regierung, welche die deutschen Maßnahmen als Rechtfertigung für die eigenen Grenzkontrollen heranzieht. Die ZEIT beschreibt in einem Artikel vom 16. September 2024 die Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt an der Oder. Dort herrscht zwar kein Migrationshotspot, die Bundespolizei führt jedoch Stichprobenkontrollen durch, basierend auf einem „geschulten Bauchgefühl“. Die Grenze ist dabei kein fester Strich, sondern ein 30 Kilometer breiter Korridor, in dem die Bundespolizei sogenannte „Schleierfahndung“ betreibt. Auch Hinweise aus der Bevölkerung spielen eine Rolle bei der Festnahme von illegal eingereisten Migranten.

Die Erfahrung von Grenzen ist somit sehr unterschiedlich. Während EU-Bürger innerhalb des Schengenraums weiterhin relativ frei reisen können, werden die Grenzen für Menschen ohne gültige Papiere immer unüberwindbarer. Dies verdeutlicht auch das interaktive Tool der ZEIT, welches die Reisebeschränkungen je nach Pass veranschaulicht. Die Welt ist für manche groß, für andere klein. Der Migrationsforscher Gerald Knaus, zitiert in der ZEIT, bezweifelt, dass Grenzkontrollen zu einem Rückgang der Migration führen. Nur ein Ende des Schengen-Abkommens könnte dies bewirken.

Die CSU kritisiert die Ampel-Regierung scharf für ihre Migrationspolitik und fordert Zurückweisungen an den Grenzen, wie auf der Webseite der CSU-Landesgruppe nachzulesen ist. Sie wirft der Regierung vor, die Bürger zu täuschen und die illegale Migration nicht effektiv zu bekämpfen.

Die Diskussion um Grenzen beschränkt sich nicht nur auf die EU. Auch in anderen Teilen der Welt spielen Grenzen eine wichtige Rolle, wie der Artikel über die innerkoreanische Grenze in der ZEIT zeigt, wo es nach Grenzübertritten nordkoreanischer Soldaten zu Warnschüssen kam.

Die Politologin Julia Schulze Wessel argumentiert in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur, dass Grenzen nicht statisch, sondern in ständiger Bewegung sind. Sie beschreibt die paradoxen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte: Während die Grenzen innerhalb Europas für manche verschwanden, wurden sie für andere, insbesondere Migranten, massiv verstärkt. Grenzen materialisieren sich für bestimmte Gruppen, während sie für andere unsichtbar bleiben. So können sich Touristen und Flüchtlinge am selben Ort aufhalten, bewegen sich aber in völlig verschiedenen Räumen.

Die „Zeit der Grenzen“ ist also nicht vorbei, sondern hat eine neue, komplexere Gestalt angenommen. Sie ist geprägt von Widersprüchen und Ungleichheiten, von scheinbarer Freiheit und tatsächlicher Begrenzung. Die Frage, wie mit diesen Widersprüchen umgegangen wird, bleibt eine zentrale Herausforderung für die Zukunft.

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