Die jüngere Menschheitsgeschichte ist geprägt von einem produktiven Unverständnis zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Anziehung und Abscheu wechseln sich in beide Richtungen ab und beeinflussen weit mehr als nur Wahlergebnisse. Diese ambivalente Beziehung, so der Schriftsteller Christoph Peters, reicht vermutlich bis in die Zeit der frühesten Stadtgründungen zurück und folgt in den meisten Kulturen ähnlichen Mustern.
Zuletzt, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, wurde die Flucht urbaner Freiberufler und Akademikerfamilien aufs Land zum Trend erklärt. Die Angst vor dem Virus und die Möglichkeit zum Homeoffice machten es möglich. Doch der Boom von Büchern und Zeitschriften, die das Landleben idealisieren, hält schon länger an. Darin finden sich rustikale Einrichtungsideen neben Tipps für den Anbau von Wildkräutern und Fotostrecken von Pferden auf dem Feld. Marktanalysen zeigen, dass vor allem der gebildete Mittelstand diese Publikationen konsumiert. Man unterhält sich über selbstgemachte Marmelade und die richtige Fersenstricktechnik bei Socken.
In letzter Zeit erscheinen jedoch vermehrt Artikel reumütiger Rückkehrer, die die kleingeistige Enge und die reaktionäre Gesinnung der ländlichen Bevölkerung anprangern. Der Neu-Gärtner, der seine Tomatenpflanzen mit selbstgebrauter Brennnesseljauche vor Blattläusen schützen will, sieht sich plötzlich mit den Insektizid-Nebeln der Feldspritze des benachbarten Bauern konfrontiert, der damit alle Lebewesen auf seinen Feldern vernichtet. Ein klärendes Gespräch wird mit Geringschätzung oder gar Gewaltandrohung beantwortet.
Unabhängig davon, was tatsächlich passiert, neigen wir dazu, solche Erlebnisse nicht als individuelle Konflikte zu betrachten, sondern überhöhen sie zu signifikanten Beispielen für das Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen. Dabei basieren diese vermeintlich exemplarischen Erfahrungen auf uralten Typisierungen und Zuschreibungen.
So wie sich die nachmodernen Landidyllen bis in die antike Bukolik zurückverfolgen lassen, so greifen auch die neuen Antiprovinz-Schriften auf Stereotype zurück, die seit jeher den Blick urbaner Eliten auf die Landbevölkerung bestimmen. Demnach florieren abseits der kommunikativen und kulturellen Zentren religiöse Bigotterie und politische Engstirnigkeit. Während in der Stadt fortschrittlich-diverse, global-ökologisch denkende Politiker gewählt werden, erhalten auf dem Land nationalkonservative bis rechtsradikale "Dumpfbacken" die Mehrheit der Stimmen.
Diesem Klischee vom tumben, rückwärtsgewandten Bauern steht das Gegenbild des unverbildeten Landmenschen in gesunder Umgebung gegenüber. Der Bauer ist hier kein ungebildeter Rohling mehr, sondern eine Art "edler Wilder" von authentischer Würde und mit einer geradezu mystischen Beziehung zur Erde. Er soll dem kopflastigen Städter den Weg aus seiner selbstverschuldeten Entfremdung weisen.
Auch in umgekehrter Richtung wechseln sich Anziehung und Abscheu ab. Für diejenigen, denen das Dorf zu langweilig und eng erscheint, bleibt die Stadt der sagenumwobene Fluchtpunkt, an dem individuelle Freiheit in Bezug auf Lebensweise und Weltanschauung versprochen wird. Gleichzeitig ist die Stadt aber auch der Ort der Anonymität, an dem man sich leicht verlieren kann.
In Christoph Peters Roman "Stadt Land Fluss" wird diese Ambivalenz am Beispiel des Kunsthistorikers Thomas Welkenbach deutlich. Welkenbach, aufgewachsen in einem Dorf am Niederrhein, flüchtet vor der Enge seiner Heimat in die Großstadt. Doch auch dort findet er nicht das erhoffte Glück. Seine Ehe mit der Zahnärztin Hanna scheitert, und er flüchtet sich in die Arbeit an seiner Dissertation über die Zentralperspektive.
Welkenbach ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach der Geborgenheit des Dorfes und dem Wunsch nach der Freiheit der Stadt. Er ist ein Suchender, der weder auf dem Land noch in der Stadt wirklich ankommt.
Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist komplex und vielschichtig. Es ist geprägt von Klischees und Vorurteilen, aber auch von Sehnsüchten und Hoffnungen. Christoph Peters' Werk zeigt, dass die Grenze zwischen Stadt und Land nicht nur geografisch verläuft, sondern auch mitten durch die Köpfe und Herzen der Menschen.
Quellen: