23.10.2024
Identitätspolitik im Zwielicht: Eine kritische Auseinandersetzung mit Karsten Schuberts Lob

Identitätspolitik ist derzeit ein umstrittenes Thema. Während einige ihren Nutzen für die Sichtbarkeit benachteiligter Gruppen betonen, kritisieren andere ihren Hang zur Spaltung und zum Furor. In diesem Spannungsfeld positioniert sich Karsten Schubert, Philosophiedozent an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit seinem Buch „Lob der Identitätspolitik“. Wie Thomas Thiel in der F.A.Z. berichtet, versteht Schubert sein Buch als Gegenentwurf zu den zahlreichen Publikationen, die die Identitätspolitik für ihren spalterischen Charakter anprangern.

Schubert plädiert für eine „gereifte, konstruktivistische Identitätspolitik“, wie Thiel schreibt. Diese Form der Identitätspolitik habe die vergangenen identitären Verhärtungen hinter sich gelassen und begreife die Bildung von Gruppenidentitäten als notwendige Strategie, um benachteiligten Gruppen Gehör zu verschaffen. Solche Kollektive seien essenziell, um einen oberflächlichen Universalismus zu überwinden, der in Wahrheit die Privilegien der gesellschaftlichen Eliten schütze. Seinen Ansatz sieht Schubert in der Tradition der radikalen Demokratietheorie verortet: Durch eine wohldosierte Anwendung von Identitätspolitik könne eine unvollkommene Demokratie demokratisiert werden.

Schubert übt Kritik an einem selbstgefälligen Liberalkonservatismus, der in jeglichem Wunsch nach Veränderung einen Auswuchs übertriebener Political Correctness sieht. Ebenso kritisiert er einen linken Universalismus, der blind gegenüber kulturellen Ungleichgewichten sei. Schubert geht die gängigen Kritikpunkte an der Identitätspolitik Punkt für Punkt durch: den Vorwurf des Tribalismus, den Verdacht, sie sei lediglich ein Projekt selbstgerechter Eliten, bis hin zur Behauptung, sie ziele darauf ab, bestehende Machtverhältnisse lediglich zum eigenen Vorteil umzukehren.

Der Philosoph entkräftet den Vorwurf des Partikularismus, indem er die Identitätspolitik in einen Universalismus einbettet, der erst durch die Überwindung von Benachteiligungen erreicht werden könne. Das wirft jedoch die Frage auf, wie berechtigte von unberechtigten und angemessene von überzogenen Gruppeninteressen abgegrenzt werden können.

Thiel kritisiert, dass Schubert den Vorwurf ignoriere, Vertreter der Identitätspolitik würden selbstgerecht und nach eigenen weltanschaulichen Präferenzen über richtig und falsch urteilen. Die in den Medien viel diskutierten Schmähungen und Cancel-Attacken seien für Schubert lediglich einige wenige, ständig wiederholte Einzelfälle, die sich bei genauerer Betrachtung in Luft auflösen würden. Belege für diese Behauptung bleibe Schubert schuldig.

An diesem Punkt, so Thiel, werde Schuberts Buch selbst zum Mythos. Denn die Cancel-Fälle seien nicht nur eindeutig belegt, sondern nähmen auch zu. Als Beispiele nennt er die ideologisch motivierten Angriffe auf die Antisemitismusforscherin Julia Bernstein und die israelische Verfassungsrichterin Daphne Barak-Erez. Solche Fälle könne Schubert nicht kennen, so Thiel, da er sich mehr für seine eigenen Meinungen über die soziale Wirklichkeit interessiere als für die soziale Wirklichkeit selbst. Fallbeispiele und argumentative Begründungen suche man in Schuberts Buch vergebens.

Von Einzelfällen könne seit Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes, das die Verwendung eines biologisch begründeten Geschlechtsbegriffs in bestimmten Fällen unter Strafe stellt, ohnehin nicht mehr die Rede sein. Hinter dem Verbot stehe zwar eine gute Absicht, dennoch handele es sich um einen Maulkorb von höchster Instanz. Für Schubert hingegen, so Thiel, dürfte es sich um eine wünschenswerte Einschränkung des Meinungsspektrums handeln. Für ihn stehe fest, dass Feministinnen, Biologen, Mediziner oder der Durchschnittsbürger, die an der Vorstellung eines biologisch zugewiesenen Geschlechts zweifeln, die falschen Interessen vertreten und tendenziell unwissenschaftlich argumentierten.

Diese Einschätzung gelte wohl auch für die über ein Dutzend Medizinprofessoren, die ihre Zweifel am Konzept des biologischen Geschlechts kürzlich in einem hundertseitigen Dossier wissenschaftlich dargelegt haben. Man könne davon ausgehen, dass es nach Schuberts Ansicht gerechtfertigt sei, wenn diese Personen von Tagungen ausgeschlossen, von ihren Universitäten vertrieben oder als Ketzer diffamiert würden. Denn all dies falle für Schubert unter Meinungsbildung.

Schuberts Blindheit setze sich fort, wenn er dem Transgenderaktivismus im Gegensatz zu dessen Kritikern ein hohes Maß an Reflektiertheit attestiere. Man müsse sich fragen, ob nicht gerade von dieser Seite mitunter die heftigsten Cancel-Attacken ausgegangen seien, etwa gegen Marie-Luise Vollbrecht, Alessandra Asteriti, Bernd Ahrbeck, Javier Álvarez-Vázquez, Kathleen Stock und andere. Man müsse nur die drei Worte „Kill a TERF“ in eine Suchmaschine eingeben, um sich vom Reflexionsniveau einiger Aktivisten zu überzeugen.

Letztlich, so Thiels Fazit, verfüge Schubert selbst nicht über die nötige Reife für die von ihm propagierte neue reflexive Phase der Identitätspolitik. Er verbleibe beim alten Stil des Befindens und Verurteilens. Maßstab für die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Identitätsansprüchen seien seine eigenen, nicht näher begründeten Präferenzen. Das Verdienst des Buches sei damit unfreiwillig: Es zeige den ungenierten Machtanspruch, die Selbstgerechtigkeit und Beschränktheit, die sich hinter einer überlegenen Moral verbergen könnten.

Quellen:

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