September 6, 2024
Castelluccis Bérénice: Ein Spiegel der Emotionen und Erwartungen
Castelluccis „Bérénice“: Wohin jene Tränen?

Castelluccis „Bérénice“: Wohin jene Tränen?

Die Adaption von Romeo Castellucci der klassischen Tragödie „Bérénice“ von Jean Racine, die mit der renommierten Schauspielerin Isabelle Huppert in der Titelrolle besetzt ist, hat in verschiedenen Städten unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Während die Aufführung bei der Ruhrtriennale in Duisburg auf freundlichen Beifall stieß, sorgte sie in Paris für Kontroversen und gespaltene Meinungen unter dem Publikum. Diese unterschiedlichen Reaktionen können möglicherweise durch die Erwartungen und Erfahrungen des jeweiligen Publikums erklärt werden.

In Duisburg wurde die Aufführung von Castellucci, der für seine innovative Regie bekannt ist, als eine gelungene Inszenierung wahrgenommen. Huppert, die während der fast hundert Minuten langen Aufführung lange Zeit hinter einem Gazevorhang agierte, wurde als Weltstarschauspielerin gefeiert. Die Zuschauer zeigten sich begeistert von ihrer Präsenz und darstellerischen Leistung.

Im Gegensatz dazu erlebte das Pariser Publikum im Théâtre de la Ville-Sarah Bernhardt eine ganz andere Reaktion. Hier spaltete die Inszenierung die Zuschauer und sorgte für Aufruhr. Ein Zuschauer rief nach anderthalb Stunden laut: „Buh, wir hören Isabelle nicht!“, was die Unzufriedenheit mit der Inszenierung deutlich machte. Diese Reaktion wurde von einem weiteren Gelächter begleitet, als der Gazeschleier schließlich fiel und Huppert sichtbar wurde.

Die Handlung von Racines „Bérénice“

Die Tragödie „Bérénice“ von Racine ist ein Drama, in dem die Handlung auf ein Minimum reduziert ist. Der römische Kaiser Titus hat beschlossen, die jüdische Prinzessin Bérénice, die er nach Rom gebracht hat, nicht zu heiraten, um die politischen Interessen des Senats und des Volkes zu wahren. Trotz ihrer Klagen und Bitten bleibt Titus unbeeindruckt, was die Verzweiflung Bérénices nur verstärkt. Der König Antiochus, der ebenfalls in Bérénice verliebt ist, hat keine Chance, da Titus seine Liebe nicht verleugnet.

Die Inszenierung von Castellucci hat den Text stark gekürzt und die männlichen Rollen weitgehend eliminiert. Stattdessen werden die Figuren von zwei Tänzern pantomimisch dargestellt, was die zentrale Rolle von Bérénice und ihre emotionale Reise in den Vordergrund rückt. Diese Entscheidung könnte darauf abzielen, die Identifikation des Publikums mit der Hauptfigur zu verstärken, ein Effekt, der bereits von Rousseau in seinen Schriften über das Theater beschrieben wurde.

Rousseaus Einfluss auf die Theaterkritik

Jean-Jacques Rousseau, ein bedeutender Denker des 18. Jahrhunderts, hat in einem offenen Brief an Jean le Rond d’Alembert eine Aufführung von „Bérénice“ analysiert, die er 1752 gesehen hatte. In seinem Bericht beschreibt er, wie die Energie von Bérénice auf das Publikum übergeht, insbesondere als sie im fünften Akt aufhört zu weinen. Diese emotionale Verbindung zwischen Schauspielerin und Publikum ist ein zentrales Element der Wirkung von Racines Werk. Rousseau hebt hervor, dass die Zuschauer erst dann wirklich berührt werden, wenn Bérénice ihre Klagen einstellt und ihre Trauer in Worte fasst.

Die Schauspielerin, die diese Rolle in der Comédie-Française verkörperte, war Jeanne-Catherine Gaussem, die für ihre darstellerische Leistung bekannt war. Laut Rousseau war der männliche Darsteller des Titus nicht in der Lage, die gleiche Wirkung zu erzielen, da das Hauptinteresse des Publikums auf Bérénice lag. Diese Beobachtung könnte Castellucci dazu inspiriert haben, die männlichen Rollen in seiner Inszenierung zu reduzieren und den Fokus auf die weibliche Hauptfigur zu legen.

Die Reaktionen des Publikums

Die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums in Duisburg und Paris werfen Fragen über die Erwartungen an Theaterproduktionen auf. Theater ist nicht nur eine Kunstform, sondern auch ein sozialer Raum, in dem das Publikum seine eigenen Erfahrungen und Emotionen einbringt. In Duisburg wurde Castelluccis Inszenierung als innovativ und ansprechend wahrgenommen, während das Pariser Publikum mit der Abweichung von der traditionellen Aufführungstechnik und der Reduzierung der männlichen Rollen nicht einverstanden war.

Die Reaktion des Publikums in Paris könnte auch auf eine tiefere kulturelle Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und der Darstellung von Machtverhältnissen auf der Bühne hinweisen. In Castelluccis Inszenierung wird die männliche Dominanz durch die pantomimische Darstellung der männlichen Figuren in Frage gestellt, was zu einem Spannungsfeld zwischen den Geschlechtern führt.

Fazit

Romeo Castelluccis Adaption von „Bérénice“ ist ein Beispiel dafür, wie Theater als Medium genutzt werden kann, um komplexe Themen wie Liebe, Macht und Geschlechterrollen zu erforschen. Die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums in Duisburg und Paris verdeutlichen die Bedeutung der kulturellen Kontexte, in denen Theater stattfindet. Während die Inszenierung in Duisburg auf breite Zustimmung stieß, führte sie in Paris zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Erwartungen an das Theater und die Darstellung von Emotionen. Die Reflexion über diese Unterschiede kann zu einem tieferen Verständnis der Rolle des Theaters in der Gesellschaft und der Art und Weise, wie es die Zuschauer beeinflusst, beitragen.

Die Auseinandersetzung mit Racines „Bérénice“ bleibt somit nicht nur auf die Bühne beschränkt, sondern eröffnet auch einen Dialog über die zeitgenössischen Herausforderungen und die Art und Weise, wie wir Kunst und Emotionen erleben.

Quellen: F.A.Z.

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