„Es blühen wunderschöne Rosen in Göttingen, in Göttingen …“ Wer dieses Chanson einmal hört, wird es nie wieder verlieren. Es schleicht sich in die Seele und öffnet das Herz.
Komponiert 1964 in einem Göttinger Rosengarten von der Französin Barbara (1930-1997), die als Jüdin niemals in Deutschland singen wollte. Und dann von der Liebe und Herzlichkeit der Göttinger zu einer großen Geste der Versöhnung inspiriert wurde.
Gemeinsam mit dem Pianisten Dietmar Loeffler hat Meret Becker aus dieser Geste nun im Tipi am Kanzleramt einen wunder-wunderschönen Abend gezaubert. „Nachtblau – Chanson für eine Abwesende“ ist ein Abend, an dem unsere federleichtsüßrotzige Berliner Kleinkunstkönigin über sich hinaus wächst wie nie zuvor.
Hatte sie schon immer diese große Stimme? Meret zwitschert, plätschert, gurrt und singt mit einer zarten, klaren Inbrunst, ganz hoch und ganz tief, im Wechsel zwischen Französisch und Deutsch. Und beschwört dabei den Geist der französischen Chansonnière, lässt Kindheitserinnerungen, Märchenhaftes, Melancholisches, Dramatisches durch das Zelt wehen. Sie hopst auf das Piano, spricht und singt über die Liebe, über verlorene und wiedergefundene.
Überhaupt das Piano. Es war Bedingung für das Konzert in Göttingen 1964. Ohne Flügel kein Konzert, da war Barbara ganz streng, wie Meret erzählt. Als an dem Abend nur ein Klavier im Theater steht, wollte sie abreisen, sofort. Doch zehn Göttinger Studenten tragen einen Flügel herbei. „Und wahrscheinlich war auch Bruno Ganz unter diesen Studenten“, sagt Meret, „schon damals ein Engel, der in den Himmel über Berlin aufsteigen würde.“
Mit dieser Phantasie schlägt sie eine Brücke ins Berliner Hier und Jetzt. Und beseelt schweben wir hinaus, mit Friedenssehnsucht im Herzen, dank Barbara und Meret.
Göttingen, das ist eigentlich keine Stadt, die man besingt, und doch verbindet man mit ihr ein Chanson, das zu den bekanntesten – und schönsten – überhaupt zählt. Geschrieben und komponiert hat es Barbara, eine französische Jüdin, die 1930 in Paris geboren wurde und versteckt die deutsche Besatzungszeit überlebte. Nie wollte sie deshalb in Deutschland auftreten, tat es 1964 trotzdem und war überwältigt von der Gastfreundschaft, mit der man ihr im Jungen Theater Göttingen begegnete. In dessen Garten brachte sie das legendäre Lied zu Papier, in dem es heißt: „Gewiss, dort gibt es keine Seine / Und auch den Wald nicht von Vincennes / Doch gäb’s viel, was zu sagen bliebe / Von Göttingen, von Göttingen.“ Wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (F.A.Z) berichtet, galt das Lied bald als wichtiger Beitrag zur deutsch-französischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen hier wie dort liebten es. Man kannte „Göttingen“, aber kannte man Barbara? Und kennt man sie noch heute? Man sollte es, nein, man muss es, findet die Schauspielerin und Sängerin Meret Becker und hat ihr darum ein ganzes Konzert gewidmet: „Nachtblau – Chanson für eine Abwesende“. Es ist ein Wunsch aus Kindertagen, seit sie Barbara im Fernsehen sah und von ihr gleich fasziniert war. Zusammen mit dem Pianisten Dietmar Loeffler hat sie ihn sich jetzt in Berlin im Tipi am Kanzleramt erfüllt.
Wer Meret Becker mit dem Song „Ein Tag wie Gold“ aus der TV-Serie „Babylon Berlin“ im Ohr hat, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Wenn man die Augen schließt, könnte man mitunter denken, es stünde tatsächlich Barbara auf der Bühne, so nahtlos hat sich Becker den polymorph gebrochenen Gesangsstil und die unkonventionelle Vortragsweise anverwandelt. Sie flicht biographische Anmerkungen und ein paar lockere Conférencen ein, übersetzt Textpassagen oder erzählt, dass Barbara die erste Chansonnière war, die eigenes Material sang – und eine Weile brauchte, um dies öffentlich zuzugeben, so ungewohnt war das damals.
„Auf alle Frauen, die singen!“, stößt Meret Becker quietschvergnügt mit dem Publikum an und fängt improvisierend die Melancholie und Schwermut auf, die Barbaras Werk durchziehen. In einem apart zerfetzten schwarzen Kleid, die Haare meist straff zurückgebunden, erweckt sie die Chansons gern mit dem expressionistischen Spiel ihrer hell hervortretenden Hände zum Leben, lässt sie in der Art von Erich Heckel oder Egon Schiele sprechen, träumen, scharwenzeln. Während Barbara bei ihren Auftritten am Klavier saß, nimmt Meret Becker leichtfüßig die ganze Bühne in Beschlag, steigt ihrem Pianisten aufs Instrument, tanzt sich bei „Je ne sais pas“ in einen betörenden Musettenwalzer hinein, wirft fiktive Tagebuchseiten aus Barbaras Jugend zu Boden.
Es geht um unglückliche Liebe, Einsamkeit und existenzielle Vergeblichkeit. Der Missbrauch als knapp Elfjährige durch den Vater, dessen Tod die Chansonnière in „Nantes“ dennoch herzzerreißend nachspürte, wird allerdings nicht erwähnt. Mit ihrer vokalen wie physischen Ausdrucksakrobatik durchmisst Meret Becker den Kosmos der schwarzen Poesie von Barbara, genießt dabei die generöse Begleitung von Dietmar Loeffler. Der hat überdies die passgenauen Arrangements geschaffen, wenn später Marie-Claire Schlameus am Cello und Uwe Steger mit dem Akkordeon einsteigen. Da wird die Musik breiter gefächert, die Beleuchtung bunter, und die Lieder entfalten sich zu szenischen Miniaturen mit hübschen Requisiten wie Regenschirm oder Strumpfband.
Die Allroundkünstlerin widmet der französischen Sängerin einen ganzen Abend im Tipi: „Nachtblau - Chanson für eine Abwesende“. Wie die „Berliner Morgenpost“ berichtet, fläzt sie sich dabei auf dem Flügel.
Die französische Sängerin BARBARA (1930 – 1997) ist der große Einzelfall des französischen Chansons, der bewegende Emotion und feingesponnene Gedankenwelt zu einem einzigartigen musikalischen Erlebnis zusammenführt. Mit ihrer klaren, mitunter tiefdunklen Stimme und ihren die Seele erforschenden Liedern ist BARBARA neben Edith Piaf, Juliette Greco und Jacques Brel eine der großen Vertreterinnen des französischen Nachkriegs-Chansons.
Mit „NACHTBLAU – Chanson für eine Abwesende“ entdecken Meret Becker und Dietmar Loeffler eine Künstlerin neu, die sich als französische Jüdin für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich eingesetzt hat, wie kaum eine zweite. Ihr Chanson „Göttingen“ legt dafür das wohl bekannteste musikalische Zeugnis ab.
Mit ihren Chansons leuchtet BARBARA in das Nachtdunkel der menschlichen Seele, macht ihre autobiographischen Erlebnisse in filigran-wuchtiger Kunst nahbar und erfahrbar.
Ihre Chansons von „Au coeur de la nuit“ über „Nantes“ und „La Solitude“ kreisen um die Archetypen menschlicher Träume und Ängste, begleitet von dem zentralen Thema der Liebe und ihres Verlustes.
Ihre Themen nehmen den in Frankreich vorangegangenen Existentialismus auf und führen ihn in eine moderne Welt der Nachkriegszeit, in der Realität und Phantasmagorien miteinander verschmelzen.
Meret Becker und Dietmar Loeffler schöpfen diese große „unbekannte Bekannte“ neu und lassen sie in ihren fiebernden Texten und dunklen Melodien auf der Bühne des TIPI wieder aufleben. Sie würdigen mit „NACHTBLAU – Chanson für eine Abwesende“ diese großartige Künstlerin, die ihre Lieder sowohl auf deutsch als auch auf französisch gesungen hat.
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https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/meret-becker-singt-in-berlin-chansons-von-barbara-110058610.html
https://www.bz-berlin.de/unterhaltung/meret-becker-chansons-barbara
https://www.morgenpost.de/kultur/article407501750/meret-beckers-begeistert-mit-barbara-chansons.html
https://www.tipi-am-kanzleramt.de/de/programm/programmuebersicht/meret-becker-dietmar-loeffler-barbara.html