Gummibärchen machten Ludwig als Kind froh – und als Erwachsenen nun ebenso. Sie haben ihn, als er in der dritten Klasse war, zunächst zu einem Referat über den Hersteller inspiriert. Und noch heute scannt Ludwig die Süßigkeitenregale im Supermarkt, als würde er Zeitungen nach Neuigkeiten durchforsten. Nur, dass er sich über die neusten Editionen unter den Naschereien informiert. Manch einer würde das sein Hobby nennen.
Alleine in der Küche oder am Familientisch, Selbstgekochtes oder Fastfood: Was und wie wir als Kind essen, kann Folgen für unser ganzes Leben haben. Warum ist das so?
Das Phänomen ist der Wissenschaft längst bekannt: Wir essen etwas, und plötzlich fühlen wir uns in eine Situation unserer Kindheit versetzt. Das mag der Blechkuchen eines Dorfbäckers sein, der mit seiner viel zu dicken Palmin-Schokoladen-Schicht an den nicht enden wollenden Backtag erinnert, den die Großmutter vor Geburtstagsfeiern einlegte. Oder das Fertiggericht, dessen Zusammensetzung sich seit den Achtzigerjahren nicht verändert hat und bei dessen Genuss der knallharte Manager für einen Moment wieder zum Schlüsselkind wird, das sehnsüchtig auf die Heimkehr der Eltern wartet. Die Zunge ist unser zweites Gedächtnis. Der Geschmack weckt die Erinnerung.
Warum das so ist, erklärt der Soziologe Tilman Allert, Autor des Buches „Der Mund ist aufgegangen – vom Geschmack der Kindheit“ (zu Klampen) so: “Beim Menschen fängt die Welterschließung mit dem Oralen an. Wie schmeckt die Welt? So lautet eine unserer ersten Fragen. Die Schwaben sprechen ja nicht ohne Grund von einem Geschmäckle, wenn sie behaupten wollen, irgendetwas stimmt nicht.“ Unser Geschmack wird in der Kindheit geprägt und mit Emotionen und Erinnerungen verbunden.
Der Prozess verläuft, stark vereinfacht, so: Die Geschmacksinneszellen, die in der Geschmacksknospe auf der Zunge liegen, fungieren als Wächter – je nach Intensität des Erlebnisses leiten sie die Geschmackserinnerung an das Gehirn weiter. Bedeutend dafür ist immer auch der Geruchssinn: Er ist wesentlich für die Wahrnehmung eines Geschmackes auf der Zunge. Was der Mensch als bleibende Erinnerung speichert, ist also ein komplexes, individuelles Muster, das sogar das Gefühl eines Lebensmittels auf der Zunge miteinbezieht.
Vom “Proust-Effekt“ oder “Madeleine-Effekt“ sprechen die Wissenschaftler. Denn schon der französische Schriftsteller Marcel Proust beschrieb das Phänomen in seinem Roman “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Darin erinnert das Aroma in den Tee getunkter Madeleines den Erzähler an seine Kindheit. Der Psychologe Sigmund Freud analysierte “Erinnerungsspuren“, die von sensorischen Empfindungen ausgelöst wurden. “Im Gepäck des Geschmacks also erscheint immer auch ein Stück Kindheit“, sagt Allert, “attraktiv oder zerstörend und abstoßend, je nachdem.“
Was und wie wir gern essen ist kein Zufall. Bereits in unserer Kindheit wird die Grundlage dafür gelegt, wie wir uns ernähren und welche Lebensmittel wir bevorzugen. Schon im Mutterleib, während der Stillzeit und bei den ersten Bissen fester Nahrung lernen wir verschiedene Geschmäcker kennen und entwickeln Vorlieben. "Geschmack ist nicht angeboren sondern gelernt!", schreibt die Ernährungswissenschafterin Mariella auf ihrem Blog "Bubble Foods".
Wie Kinder Essen lernen und wie sich ihr Geschmack entwickelt, wird durch verschiedene Einflüsse bestimmt. Die Plattform "Familienküche" listet fünf wesentliche Faktoren auf:
Demnach spielen sowohl angeborene Mechanismen, wie die Präferenz für Süßes, als auch Erfahrungen und das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle.
Kinder lernen durch Beobachtung und Nachahmung. Das gilt besonders für das Essverhalten. "Kleinkinder sind deutlich skeptischer als Babys", erklärt Mariella. "Mama und Papa aber auch Geschwister, Großeltern oder andere Bezugspersonen dienen als Vorbild wenn es ums Essen geht." Wenn die Eltern also genussvoll und mit Freude eine abwechslungsreiche Ernährung praktizieren, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Kinder diese übernehmen.
Druck und Zwang hingegen führen eher zu negativen Assoziationen mit bestimmten Lebensmitteln. Wichtig ist, dass Kinder spielerisch an neue Geschmäcker herangeführt werden und die Möglichkeit haben, Neues in ihrem eigenen Tempo zu entdecken.
Die Ernährung in der Kindheit hat langfristige Auswirkungen. Studien zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren eine vielfältige Auswahl an Lebensmitteln kennengelernt haben, auch als Erwachsene zu einer vielseitigeren Ernährung neigen. Umgekehrt kann eine eintönige Ernährung in der Kindheit dazu führen, dass bestimmte Lebensmittel im späteren Leben gemieden werden, auch wenn sie eigentlich gesund und schmackhaft sind.
Es ist also nie zu spät, die eigenen Essgewohnheiten zu überdenken und neue Geschmackserfahrungen zu sammeln. Mit etwas Experimentierfreude und Offenheit lassen sich auch im Erwachsenenalter noch neue Lieblingsgerichte entdecken.
Quellen: