Die 16-jährige Amtszeit von Angela Merkel wird unterschiedlich bewertet. Gerald Braunberger beschreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) vom 27.11.2024 die Diskrepanz zwischen den positiven Erinnerungen vieler Deutscher an wirtschaftliche Stabilität und dem heutigen Wissen um die Herausforderungen, die Merkels politisches Erbe mit sich bringt. Die Merkel-Jahre waren gekennzeichnet durch Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation und einen historischen Höchststand der Beschäftigung. Enorme Leistungsbilanzüberschüsse wurden als Zeichen wirtschaftlicher Stärke interpretiert, und die Staatsverschuldung sank. Gleichzeitig verweist Braunberger auf Fehlentscheidungen, deren Konsequenzen erst später deutlich wurden und die das Bild einer zumindest teilweise misslungenen Kanzlerschaft zeichnen.
Braunberger argumentiert, dass der Atomausstieg Teil einer fehlgeleiteten, von der „German Angst“ getriebenen Energiepolitik war. Die Priorisierung des Sozialstaatsausbaus auf Kosten von Investitionen, zum Beispiel in die Infrastruktur, belastet Deutschland heute. Diese Politik war damals jedoch populär, da sich eine alternde Gesellschaft laut der Politischen Ökonomie eher für Transferleistungen als für Zukunftsinvestitionen interessiert. Die Folgen des Infrastrukturverfalls wurden verdrängt, bis Brücken einstürzten und der Bahnverkehr zum Erliegen kam. Der damalige Wettlauf der Großkoalitionspartner um die expansivste Sozialpolitik wurde fälschlicherweise als Zeichen des Wohlstands gedeutet.
Auch in der Sicherheitspolitik gab es Versäumnisse. Die Entscheidung, die Verteidigung Deutschlands weitgehend den USA zu überlassen und die Bundeswehr unzureichend auszustatten, stieß auf wenig Widerstand. Der Verkauf des größten Gasspeichers an Gazprom und die Unterstützung von Nord Stream 2 wurden als wirtschaftlicher Erfolg gefeiert. Wie Braunberger in der F.A.Z. schreibt, waren Sanktionen gegen Russland weder für die SPD noch für die deutsche Wirtschaft von Interesse. Der Einfluss des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft war damals erheblich.
Merkels Memoiren, erschienen am 26.11.2024, zeichnen laut Tagesspiegel ein wenig selbstkritisches Bild ihrer Amtszeit. Sie räumt zwar kleinere Fehler ein, verteidigt jedoch die grundsätzliche Ausrichtung ihrer Politik. Der Tagesspiegel berichtet, dass Merkel den Einfluss des Zufalls auf ihre politische Karriere betont, beginnend mit ihrem Engagement beim „Demokratischen Aufbruch“ Ende 1989.
Das ZDF (27.11.2024) zitiert Merkel: „Dieses Buch soll wirklich nicht den Eindruck erwecken, mit meinem Ausscheiden aus dem Amt sei das ideale Deutschland hinterlassen worden.“ Sie räumt ein, dass Deutschland zum Ende ihrer Kanzlerschaft nicht in einem „Tip-Top-Zustand“ war und übernimmt die Verantwortung für die in ihrer Amtszeit getroffenen Entscheidungen. Gleichzeitig verteidigt sie Entscheidungen wie den Bau von Nord Stream 2 mit dem Argument des günstigen Gases für die deutsche Wirtschaft.
Auch die Energiepolitik und der Umgang mit Russland werden kritisch gesehen. Thomas Jäger wirft Merkel im Focus (13.01.2022) ambitionsloses Regieren vor, das Deutschland zurückgeworfen habe. Er kritisiert zudem das Krisenmanagement in der Pandemie und den Machtkampf um die Kanzlerkandidatur in der Union, der von den eigentlichen Problemen abgelenkt habe.
Einen anderen Blickwinkel auf die Zusammenarbeit Merkels mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande bietet ein Kommentar von Nils Minkmar in der F.A.Z. (24.08.2012). Er beschreibt ein Treffen der beiden im Kanzleramt, bei dem Merkels Aussage "Wir werden uns nicht langweilen" bereits aufkommende Langeweile erahnen ließ.