October 3, 2024
Einheit in der Vielfalt: Herausforderungen und Chancen der deutschen Demokratie

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall: Die Einheit der Demokraten ist gefragt

Fast 35 Jahre sind seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen. Eine Generation ist in Ost und West aufgewachsen, die die deutsche Teilung nur noch aus Erzählungen kennt. Die Herkunft eines Deutschen sollte eigentlich immer weniger eine Rolle spielen. Doch die Realität sieht anders aus, wie der Tag der Deutschen Einheit in diesem Jahr und die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zeigen. West und Ost driften in Deutschland auseinander, wie die F.A.Z. berichtet.

Auseinanderdriftende Wahlergebnisse

Die AfD erzielte in den ostdeutschen Bundesländern bei den Landtagswahlen in etwa doppelt so hohe Werte wie im Westen. Das populistische Bündnis „Sahra Wagenknecht“, das eher als Wahlplattform denn als Partei zu sehen ist, wurde aus dem Stand drittstärkste Kraft. Grüne und FDP laufen Gefahr, zu reinen Westparteien zu werden. Ein einheitliches Parteiensystem in Deutschland scheint sich aufzulösen.

Wirtschaftlicher Aufschwung allein reicht nicht

Lange Zeit herrschte die Erwartung, der Osten werde sich dem Westen angleichen. Wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse annäherten, würden auch die mentalen und politischen Unterschiede verschwinden. Diese allein auf die Ökonomie fokussierte Perspektive erwies sich als kurzsichtig.

Die Wirtschaft im Osten wächst heute schneller als im Westen. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken und liegt nur noch geringfügig über dem Westniveau. Über 75 Prozent der Ostdeutschen geben regelmäßig an, mit ihrem persönlichen Leben zufrieden zu sein. Viele ostdeutsche Städte befinden sich in einem so guten Zustand, dass man schlecht gelaunte Bewohner in einen Bus nach Gelsenkirchen oder Duisburg setzen möchte, damit sie den Unterschied sehen.

Das Gefühl, ein Bürger zweiter Klasse zu sein

Gleichzeitig fühlen sich fast zwei Drittel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Dafür gibt es Gründe: Nur vier Prozent der führenden Wirtschaftskapitäne sind im Osten geboren, nur acht Prozent der führenden Medienleute und nur zwei Prozent der Richter – bei einem Bevölkerungsanteil von 20 Prozent. Das Vermögen ist in Deutschland ohnehin höchst ungleich verteilt. Im Westen wird neunmal so viel steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder verschenkt wie im Osten. Die westdeutschen Spitzenverdiener verdienen fast doppelt so viel wie die ostdeutschen, was an der kleinteiligeren Wirtschaftsstruktur im Osten liegt. Ostdeutsche Löhne liegen immer noch knapp 30 Prozent unter den westdeutschen.

Frust und Wut trotz wirtschaftlicher Fortschritte

Es ist fraglich, ob die bleibenden ökonomischen Unterschiede und die mangelnde Repräsentation als hinreichende Gründe für den im Osten verbreiteten Frust und die Wut gelten können. Zwar spricht sich eine große Mehrheit der Ostdeutschen für die Demokratie aus. Doch ein Teil von ihnen versteht darunter nicht demokratische Verfahren, den Ausgleich von Interessen und den Schutz von Minderheiten, sondern die unmittelbare Erfüllung der Forderungen, die man selbst als die richtigen ansieht.

Die AfD als Vertreterin des Volkswillens

Diese Haltung wurde schon als „Einforderungsdemokratie“ bezeichnet. Die AfD knüpft an diese Stimmung an, indem sie sich als Vertreterin des Volkswillens präsentiert. Dass es grundlegende Spielregeln der Demokratie gibt, die es einzuhalten gilt, spielt für diese Kraft keine Rolle, wie der provozierte Eklat im Thüringer Landtag gezeigt hat.

Vertrauensverlust in Politik und Institutionen

Nach den Turbulenzen der Wendejahre haben viele Ostdeutsche wenig Neigung, sich den neuen Krisen und Herausforderungen zu stellen, sei es der russische Imperialismus, die globale Migration, der Klimawandel oder die alternde Gesellschaft, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Lieber schließt man sich denen an, die dafür laut die angeblichen Schuldigen ausmachen, nämlich die aktuell Regierenden. Und so ist man gegen den Staat, von dem man zugleich alles erwartet.

Der Vertrauensverlust in Parteien und staatliche Institutionen ist kein ostdeutsches Spezifikum, auch wenn die Vertrauenswerte dort noch niedriger sind als im Westen. Die demokratischen Politiker müssen neue Wege finden, um dem entgegenzutreten. Antidemokratische Entwicklungen gibt es in Westdeutschland, in vielen europäischen Ländern und weltweit. Es wäre fatal, sie als ostdeutsche Besonderheit abzubuchen. Es geht darum, dass die Demokraten einig darin sind, den Zerstörern der Demokratie entgegenzutreten.

Quelle: F.A.Z.

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