19.10.2024
Rechtsprechung zur NS-Vergangenheit: Bestätigung der Verurteilung einer KZ-Sekretärin

Revision im Fall Stutthof: Urteil gegen ehemalige KZ-Sekretärin rechtskräftig

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Verurteilung der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F. wegen Beihilfe zum Massenmord bestätigt. Der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig hat die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe verworfen. Die 99-jährige Irmgard F. wurde wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in fünf Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Diese Entscheidung ist nun rechtskräftig.

Der Fall gilt als eines der letzten Strafverfahren zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenmorde. Irmgard F. war zwischen Juni 1943 und April 1945 als Schreibkraft in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig. Zu diesem Zeitpunkt war sie 18 beziehungsweise 19 Jahre alt. Das Landgericht Itzehoe hatte festgestellt, dass sie durch ihre Arbeit den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten geholfen hat. Auch unterstützende Tätigkeiten können rechtlich als Beihilfe zum Mord angesehen werden.

Im Konzentrationslager Stutthof wurden während des Zweiten Weltkriegs über 100.000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten. Historikern zufolge starben etwa 65.000 von ihnen. Stutthof war bekannt für die unzureichende Versorgung der Gefangenen, die absichtlich herbeigeführt wurde, um Tötungen zu ermöglichen. Das Lager verfügte über Gaskammern und eine Genickschussanlage, in der kranke und zur Zwangsarbeit nicht mehr fähige Gefangene getötet wurden.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, äußerte, dass er das Urteil für richtig halte, jedoch bedauere, dass die Angeklagte ihre Schuld nicht eingestanden habe. Er betonte, dass es nicht darum gehe, sie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu stecken, sondern dass sie Verantwortung für ihre Taten übernehmen müsse. Als Sekretärin sei sie eine bewusste Gehilfin der nationalsozialistischen Mordmaschinerie gewesen und trage Verantwortung für die Ermordung tausender Menschen.

Schuster bezeichnete das Urteil als „eine späte Form der Gerechtigkeit“. Er wies darauf hin, dass es für Überlebende der Schoa von großer Bedeutung sei, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht werde. Das fehlende Schuldeingeständnis der Täterin wiege schwer und stehe beispielhaft für viele NS-Täter, die unbehelligt leben konnten, ohne strafrechtliche Konsequenzen für ihre Verbrechen zu befürchten. Das Rechtssystem habe eine klare Botschaft gesendet: Auch fast 80 Jahre nach der Schoa dürfe kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden. Mord verjährt nicht – weder juristisch noch moralisch.

Das Internationale Auschwitz Komitee hatte ebenfalls die Hoffnung geäußert, dass mit der Entscheidung in einem der letzten KZ-Prozesse vor einem deutschen Gericht ein Zeichen der Gerechtigkeit gesetzt werde. Christoph Heubner, Vizepräsident des Komitees, erklärte, dass die Gerichtsentscheidung für Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager nicht nur von hoher symbolischer Bedeutung sei.

Irmgard F. hatte im Dezember 2022 eine Verurteilung erhalten, gegen die ihr Anwalt Revision eingelegt hatte. Der BGH hat nun die Revision verworfen und damit die Entscheidung des Landgerichts Itzehoe bestätigt. Die Verteidigung hatte argumentiert, dass Irmgard F. nicht in vollem Umfang über die Geschehnisse im Lager informiert gewesen sei und ihre Arbeit als Schreibkraft nicht wesentlich von ihrer früheren Tätigkeit in einer Bank abgewichen sei. Diese Argumentation wurde jedoch vom BGH zurückgewiesen.

Die Vorsitzende Richterin Gabriele Cirener stellte klar, dass Irmgard F. durch ihre Dienstbereitschaft psychische Beihilfe zu den Mordtaten geleistet habe. Über ihren Schreibtisch ging fast die gesamte Korrespondenz des Lagers, einschließlich der Bestellungen für das Blausäuregases Zyklon B. Der BGH betonte, dass die Angeklagte als „zuverlässige und gehorsame Untergebene“ einzustufen sei, wodurch sie einen zentralen Beitrag zur bürokratischen Organisation des Lagerbetriebs geleistet habe.

Insgesamt wurden im KZ Stutthof und seinen Außenlagern schätzungsweise 110.000 Menschen aus 28 Ländern inhaftiert, von denen fast 65.000 nicht überlebten. Der Fall von Irmgard F. wird als bedeutend angesehen, da er die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland fortsetzt und gleichzeitig die Erinnerung an die Gräueltaten wachhält.

Die Entscheidung des BGH wird als wichtiges Signal in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gewertet. Es wird erwartet, dass solche Urteile auch in Zukunft zur Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus beitragen werden.

Quellen: FAZ, NDR, LTO, Süddeutsche Zeitung, BR24, ZDF

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