27.10.2024
Sozialbeiträge in Deutschland Steigen Erneut

Nach ihrer herben Wahlniederlage im September 1998 sahen sich Union und FDP mit dem Vorwurf der neuen rot-grünen Koalition konfrontiert, auf ganzer Linie gescheitert zu sein. „Sozialversicherungsbeiträge von 42 Prozent und mehr sind auf Dauer nicht zumutbar“, wetterte der SPD-Abgeordnete und Gewerkschafter Adi Ostertag im Deutschen Bundestag. „Hier hat die alte Regierung vollkommen versagt.“ Ähnlich äußerte sich der neue Arbeitsminister Walter Riester (SPD) und beklagte „dramatisch hohe“ Lohnnebenkosten. In der Endphase der Vorgängerregierung unter Helmut Kohl (CDU) waren die Beitragssätze der Sozialkassen – Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeits­­lo­­sen­ver­si­che­rung – auf die Rekordhöhe von zusammen 42,1 Prozent des Bruttolohns geklettert, wie die FAZ berichtet.

Erst durch eine parteiübergreifend beschlossene Mehrwertsteuererhöhung, die in höhere Bundeszuschüsse an die Sozialkassen flossen, ließen sich die Beiträge ab 1999 zeitweise senken. Echte Besserung trat jedoch erst später ein: Mit dem Aufschwung nach den „Agenda-Reformen“ von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sank die Arbeitslosigkeit. Die Gruppe der Beschäftigten, also der Beitragzahlenden, stieg, während die Zahl der Leistungsempfänger sank. Das brachte den finanziell klammen Sozialkassen und ihren Versicherten die langersehnte Entlastung.

Bis heute wurde die Marke von 42 Prozent nicht wieder übertroffen. Das Thema war lange Zeit aus der politischen Debatte verschwunden. Jetzt aber kehrt es mit Wucht zurück. Allein mit der kürzlich angekündigten Steigerung der Krankenkassenbeiträge erhöht sich die Gesamtbelastung im kommenden Jahr auf 42,3 Prozent. Das gilt zumindest für Arbeitnehmer, die auch den Pflegebeitragszuschlag zahlen, weil sie keine Kinder haben. Rechnet man weitere, bereits absehbare Beitragssatzerhöhungen der anderen Sozial­kassen hinzu, dann werden daraus spätestens Anfang 2028, zur Mitte der kommenden Wahlperiode, 44 Prozent.

Entwicklung ist „auf Dauer nicht zumutbar“

Gemessen an den hitzigen politischen Auseinandersetzungen über den Bundeshaushalt mit einem geplanten Ausgabenvolumen von rund 490 Milliarden Euro für 2025, wird die Bedeutung der Sozialversicherungen vielfach unterschätzt. Deren Ausgaben summierten sich bereits 2023 auf mehr als 750 Milliarden Euro. Darin sind auch Steuerzuschüsse enthalten, wie der zur gesetzlichen Rente. Der Großteil wird jedoch über Beiträge aufgebracht. Diese werden zur Hälfte vom Bruttolohn des Arbeitnehmers abgezogen; die andere Hälfte zahlt der Arbeitgeber wie einen Zuschlag zum Bruttolohn direkt an die Sozialkassen. Eine Beitragserhöhung um einen Prozentpunkt macht heute 16 Milliarden bis 18 Milliarden Euro jährlich aus. Zum Vergleich: Der Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer bringt etwas mehr als zwölf Milliarden Euro.

Dass die aktuelle Beitragsentwicklung „auf Dauer nicht zumutbar“ sei und ein „Versagen der Regierung“ belege, ist von heutigen SPD-Politikern nicht zu hören. Wer in den vergangenen Jahren vor ausgabentreibenden Sozialgesetzen warnte, dem hielten Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und andere gerne entgegen, dass die Beiträge ja immer noch niedriger seien als unter Helmut Kohl. Dieses Argument hat nun sein Verfallsdatum erreicht. Eine entschlossene Bewegung gegen steigende Sozialbeiträge zeigt sich allerdings auch in anderen Parteien nicht. Wirtschaftsvertreter vermissen selbst bei der FDP klare Bekenntnisse zu einer Begrenzung, zu der einst als Obergrenze angesehenen Marke von 40 Prozent.

Steigende Zahl der Leistungsbezieher

Es könnte daran liegen, dass der politische Druck heute in einer Hinsicht geringer erscheint: Im Wahljahr 1998 gab es mehr als 4,5 Millionen Arbeitslose, die heutige Zahl von knapp drei Millionen gilt nicht als ernstes Problem. Bei näherer Betrachtung ist die Sache jedoch nicht ganz so klar. Der niedrigeren Arbeitslosigkeit stehen heute – und in der Zukunft – stärker steigende Rentnerzahlen gegenüber. Für die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft ist beides eine Belastung. Ob die Sozialkassen mehr Arbeitslose oder mehr Rentner zu versorgen haben, macht finanziell keinen großen Unterschied. In beiden Fällen steigt die Zahl der Leistungsbezieher, mit der Folge, dass die verbleibende Zahl der Produktivkräfte mit steigenden Abgaben belastet wird.

Die höheren Abgaben verteuern die Einstellung neuer Mitarbeiter und vertiefen die Standortnachteile Deutschlands. Gerade deshalb mahnt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Rückkehr zur 40-Prozent-Grenze an. „Sonst wird weniger in Deutschland und mehr im Ausland investiert“, warnte Dulger im Gespräch mit der F.A.Z.

Der Beitrag zur Rentenversicherung beträgt bisher 18,6 Prozent, für die Arbeitslosenversicherung werden 2,6 Prozent fällig. Die Krankenkassenbeiträge liegen heute noch bei 16,3 Prozent, rechnet man neben dem allgemeinen Satz von 14,6 Prozent weitere im Schnitt 1,7 Punkte für den Zusatzbeitrag hinzu, der je nach Kasse variiert. Für die Pflegeversicherung fallen 3,4 Prozent des Bruttolohns als Regelbeitrag an; für Arbeitnehmer ohne Kinder werden weitere 0,6 Punkte Zuschlag für die Pflege fällig. Alles zusammen sind das 41,5 Prozent. Vor zehn Jahren waren es 39,75 Prozent.

Die Regierung ist schuld

Der nächste Beitragssprung steht bei den Krankenkassen an. Der Schätzerkreis hat gerade den Finanzbedarf der Kassen neu ermittelt und für 2025 eine Erhöhung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags von 1,7 auf 2,5 Prozent empfohlen. Dazu trägt die schlechte Wirtschaftslage bei. Addiert zum bisherigen Gesamtbeitrag von 41,5 Prozent, werden daraus 42,3 Prozent. Die tatsächliche Höhe der Zusatzbeiträge legen die 95 Krankenkassen je nach ihrer Finanzlage selbst fest. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums lagen sie zuletzt in einer Spanne von 0,7 bis 3,28 Prozent; es deutet sich ein ungewöhnlich starker Druck zu weiteren Erhöhungen an.

Eine Ursache liegt darin, dass die Gesundheitspolitik in den vergangenen Jahren verschiedene Kostenbremsen gelockert hat – teils um Verwerfungen durch die Corona-Pandemie abzufedern, teils als Reaktion auf zunehmende Rufe nach einer „Entökonomisierung“ des Gesundheitswesens. Das begann schon mit den CDU-Ministern Hermann Grö­he und Jens Spahn. Beispielsweise dürfen Krankenhäuser Personalkostensteigerungen in der Pflege seit 2018 wieder – wie einst vor der Jahrtausendwende – den Krankenkassen unbegrenzt in Rechnung stellen. Die Kassen sind in den Lohnrunden fürs Pflegepersonal aber nicht Tarifpartei: Sie zahlen, ohne mitzuverhandeln.

Die Liste solcher Regeländerungen ist seither lang geworden, was die Kosten steigen ließ. Erst die aktuelle, von Ländern und Kommunen kritisierte Krankenhausreform von Karl Lauterbach (SPD) gilt als Ansatz einer Richtungsänderung, weil sie durch Schließung und Zusammenlegung von Häusern zu effizienteren Strukturen führen soll. Doch Strukturreformen sind ein mühsames Geschäft, und Einspareffekte treten erst mit Verzögerung ein.

Eigenanteile sind für Pflegebedürftige schwer bezahlbar

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte kürzlich auf dem Arbeitgebertag in Berlin, wie er mit den Sozialbeiträgen nicht nur in Sachen Krankenhausreform umgehen möchte. Es gehe darum, steigende Beiträge zu verhindern, ohne Leistungen zu verschlechtern, sagte Scholz. Das klang ein wenig nach verstärkten Ambitionen, lässt sich aber auch anders deuten: Der Anstieg der Belastungen für Beitragszahler soll nur dort gebremst werden, wo es ohne Einschränkung für Leistungsbezieher gelingt. Und von sinkenden Beitragssätzen ist gar nicht die Rede.

Der zweite akute Testfall ist die Pflegeversicherung, die 1995 von CDU-Sozialminister Horst Seehofer eingeführt wurde. Damals lag der Beitragssatz bei 1,7 Prozent. Heute sind es 3,4 Prozent, für Kinderlose sogar 4 Prozent. Und auch das reicht nicht: Schon jetzt ist absehbar, dass die Eigenanteile, die Pflegebedürftige in Heimen zahlen müssen, weiter steigen. Derzeit sind es im Schnitt mehr als 2500 Euro im Monat. Für viele Familien ist das nicht zu bezahlen, weshalb sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind.

Gesundheitsminister Lauterbach will deshalb noch in diesem Jahr ein Gesetz für eine „Pflegevollkasko“ vorlegen. Geplant ist, die Eigenanteile für Heimbewohner zu deckeln. Die Mehrausgaben für die Pflegeversicherung, die Experten auf jährlich bis zu 15 Milliarden Euro schätzen, sollen aus Steuermitteln finanziert werden. Ob das reicht, um die Pflegeversicherung dauerhaft zu stabilisieren, ist fraglich. Klar ist aber: Die „Steuererhöhung durch die Hintertür“, wie Kritiker die stetig steigenden Sozialbeiträge nennen, dürfte damit nicht beendet sein.

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