In einer Zeit beispiellosen Wohlstands und umfassender Menschenrechte erleben wir paradoxerweise eine nie dagewesene Verbreitung der Opferrolle. Diese Beobachtung stand im Zentrum der Dankesrede von Eva Illouz anlässlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtete. Illouz, eine renommierte französisch-israelische Soziologin, widmete ihre Worte all jenen, die keine Stimme haben oder deren Lasten sie am Sprechen hindern.
Um die Diskrepanz zwischen objektivem Wohlstand und subjektivem Leid zu verdeutlichen, zitierte Illouz den afroamerikanischen Sprachwissenschaftler John McWhorter und dessen Erfahrung an der Eliteuniversität Berkeley. McWhorter schildert die Begegnung mit einem schwarzen Studenten, der Rassismus beklagte, aber keine konkreten Vorfälle benennen konnte, außer „komischen Blicken“ von weißen Kommilitonen. McWhorter merkt an, dass Eliteuniversitäten zu den am wenigsten rassistischen Orten der Welt gehören. Dieses Beispiel, so Illouz in der FAZ, beleuchtet eine zentrale Dimension der Krise demokratischer Gesellschaften.
Die Soziologin argumentiert, dass die zunehmende Fokussierung auf Identitätspolitik und die damit verbundene Opferkultur negative Konsequenzen haben kann. Während berechtigte Anliegen nach Gleichberechtigung und Anerkennung wichtig sind, birgt die übermäßige Betonung von Opfererfahrungen die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung und der Instrumentalisierung von Leid. Illouz warnt davor, dass die Fixierung auf die eigene Opferrolle die Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung und zum Dialog erschwert.
Die FAZ berichtet weiter, dass Illouz in ihrer Rede die komplexen Zusammenhänge zwischen individueller Wahrnehmung und gesellschaftlichen Strukturen beleuchtete. Sie plädierte für eine differenzierte Betrachtungsweise, die sowohl die Anerkennung von Ungleichheiten als auch die Übernahme von Eigenverantwortung berücksichtigt. Illouz betonte die Bedeutung von Dialog und Verständnis, um die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu bewältigen.
Die Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises an Eva Illouz würdigt ihre herausragende Forschung und ihre Fähigkeit, komplexe soziologische Erkenntnisse einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Wie die Frank-Schirrmacher-Stiftung mitteilte, wurde Illouz für ihre Arbeit zu den Wechselwirkungen zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlichen Strukturen ausgezeichnet. Die Laudatio hielt die Politologin Saba-Nur Cheema.
In einem Interview mit der Welt äußerte sich Illouz kritisch zur linken Identitätspolitik. Sie sieht die Gefahr, dass diese der extremen Rechten den Weg bereitet. Ihren Vorschlag zur Bekämpfung der „Opferkultur“ bezeichnet die Welt als radikal.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete über eine Rede von Illouz zum Aby-Warburg-Preis in Hamburg, in der sie die Komplexität des Nahostkonflikts betonte und vereinfachende Darstellungen kritisierte. Sie warnte vor der Verwechslung von Fakten und Meinungen, die zu einer Verzerrung der Wahrheit führen kann.
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