October 4, 2024
Herbstliche Herausforderungen in der Türkei: Bildung, Armut und Abwanderung

Wie die FAZ berichtet, beginnt der Herbst in der Türkei mit Sorgen. Nicht nur, weil die sonnigen Tage vorbei sind, sondern auch, weil die Preise für Lebensmittel und Energie steigen. Hinzu kommen die Ausgaben für Schulbedarf nach den Ferien. Und seit einigen Jahren gibt es noch eine zusätzliche Belastung für die türkischen Steuerzahler: die Reise des Staatspräsidenten zur UN-Generalversammlung.

Recep Tayyip Erdoğan reist nicht wie andere Staatschefs mit einer kleinen Delegation oder gar Linienflug. Letzte Woche flog er mit fünf Flugzeugen, darunter einem Transporter für seine Dienstwagen, nach New York. Dort waren Hotelzimmer für mehrere Tausend Dollar pro Nacht reserviert, und durch die Straßen der Stadt fuhren LED-Werbewagen mit Erdoğans Konterfei.

Während der türkische Staatspräsident seinen USA-Besuch im Stil arabischer Scheichs zelebrierte, trat im eigenen Land eine Sparmaßnahme des Bildungsministeriums in Kraft, die Zehntausende Schüler betrifft. Da es nicht in allen ärmeren Dörfern Anatoliens Schulen gibt, wurden die Kinder bislang mit staatlich finanzierten Bussen zu den Bildungseinrichtungen gebracht. Dieses Transportsystem, die sogenannte „mobile Bildung“, wurde nun vom Staat gestrichen. Als Grund wurden unzureichende finanzielle Mittel angegeben.

Doch nicht nur die ländliche Bevölkerung leidet unter den Sparmaßnahmen der Regierung. Wie die FAZ berichtet, wurde kürzlich auch die einzige staatlich finanzierte Schulmahlzeit für bedürftige Schüler gestrichen. Der Etat des Präsidentenpalastes hingegen, konnte innerhalb der letzten zehn Jahre um das Fünftausendfache angehoben werden.

Neben der Unterfinanzierung leidet das türkische Bildungssystem auch unter dem Einfluss religiöser Gemeinschaften. Seit Sekten und andere religiöse Gruppen offiziell in das Erziehungswesen integriert wurden, geraten Millionen Kinder unter den Einfluss reaktionärer Kräfte. Es gibt immer wieder Berichte von Schulleitern, die Mädchen zum Tragen eines Kopftuchs drängen.

Viele junge Menschen sehen angesichts dieser Umstände ihre Zukunft außerhalb der Türkei. Wie die FAZ berichtet, wollten dieses Jahr von den 155 Abiturienten am Istanbul Erkek Lisesi, der größten türkischen Schule mit Deutsch als Unterrichtssprache, nur neun in der Türkei bleiben. Die anderen haben sich für ein Studium in Deutschland oder der Schweiz entschieden.

Eine aktuelle Statistik über den Braindrain zeigt, dass die Türkei die größten Talente ihrer Jugend an die USA und Deutschland verliert. Wer es sich leisten kann, verlässt das Land. Diejenigen, die bleiben, haben oft keinen Zugang zu qualifizierter Bildung und landen entweder in schlecht bezahlten Jobs oder auf der Straße.

In ihrem letzten Brief aus Istanbul zitierte Bülent Mumay, die Autorin des FAZ-Artikels, eine Statistik der OECD, der zufolge jeder dritte junge Mensch in der Türkei weder in Ausbildung noch in Beschäftigung ist. Diese Menschen arbeiten oft ohne Registrierung oder sind anfällig für illegale Tätigkeiten.

Ein trauriges Beispiel dafür ereignete sich vergangene Woche. Ein 19-Jähriger wurde bei einem Motorraddiebstahl erwischt und festgenommen. Bei einem Fluchtversuch auf der Polizeiwache erschoss er eine Polizistin, nachdem er ihr die Dienstwaffe entrissen hatte. Wie sich später herausstellte, hatte der junge Mann bereits 26 registrierte Straftaten begangen, war aber nie im Gefängnis gelandet.

Statt eine Debatte über das offensichtliche Versagen des Staates bei der Verhinderung dieser Tragödie zuzulassen, inszenierte die türkische Regierung die Überstellung des 19-Jährigen zum Gericht als Show. Der Täter wurde nackt, nur mit einem schwarzen Müllsack verhüllt, aus dem Polizeigebäude geführt und von Dutzenden Kamerateams gefilmt. Die sichtbaren Stellen seines Körpers waren mit blauen Flecken übersät.

Anstatt in ein normales Polizeifahrzeug wurde der junge Mann in einen Transporter für Haustiere gesteckt. So führte der türkische Staat den Jugendlichen, der aufgrund staatlichen Unvermögens zum Intensivtäter geworden war, der Öffentlichkeit vor.

Das Gerichtsgebäude, das der 19-jährige Täter erst nach dem Mord an einer Polizistin kennenlernte, hatte in diesen Tagen noch weitere prominente Besucher. Unter ihnen befand sich der Schriftsteller Yavuz Ekinci, dessen Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurden. Ihm wird vorgeworfen, sein 2014 veröffentlichter Roman „Rüyası Bölünenler“ (bisher nicht übersetzt) enthalte Terrorpropaganda. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft.

In dem Roman geht es um eine kurdische Familie, die im Zuge des bewaffneten Konflikts mit der PKK im Südosten der Türkei deportiert und auseinandergerissen wurde. Bis Anfang 2023 gab es keinerlei Probleme mit dem Buch. 2014 wurde es sogar auf dem offiziellen Stand des türkischen Kultusministeriums auf der Frankfurter Buchmesse ausgestellt. Im Februar 2023 wurde es dann von einem Leser denunziert und per Gerichtsbeschluss konfisziert.

Auf die Frage des Richters, warum er das Buch geschrieben habe, antwortete Ekinci: „Ein Roman ist Fiktion. Es spricht für die Kraft meiner Literatur, dass mein fiktiver Kosmos dem Gericht real vorkommt, und zeigt, wie die Justiz mit Literatur umgeht. Ein Prozess gegen den Kosmos eines fiktiven Werks ist abstrakt. Es ist politisch, diesen Roman vor Gericht zu bringen, zu verbieten und zu beschlagnahmen. Und es ist eine Schmähung der Kunst, einen Künstler aufgrund seiner Protagonisten und ihrer Worte anzuklagen. Stellt man einen Schriftsteller wegen der Worte und Taten eines Romanhelden vor Gericht, muss Dostojewski wegen Raskolnikow als Mörder angeklagt werden.“

Quellen:

- https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/brief-aus-istanbul-von-buelent-mumay-erdogan-entgleitet-das-land-110024518.html

- https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/brief-aus-istanbul/i-stanbul-dan-mektuplar/i-stanbul-dan-mektuplar-hakim-sordu-bu-roman-neden-yazd-n-110025400.html

- https://newstral.com/de/article/de/1258659291/brief-aus-istanbul-der-pr%C3%A4sident-reist-wie-ein-scheich-zur-un

- https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-6-2005-09-28_DE.html

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