19.10.2024
LibanonKrieg und die Suche nach einer politischen Zukunft

Kompromisse durch den Krieg? Libanons politische Landschaft im Wandel

Der Krieg in Nahost wirft seine Schatten auch auf die Innenpolitik des Libanon. Während das Land täglich Zerstörung erfährt, gibt es im politischen Machtkampf Anzeichen für Bewegung. Wie die F.A.Z. berichtet, könnte der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, der bereits seit Monaten tobt, paradoxerweise den Weg für einen politischen Neuanfang ebnen.

Seit etwa zwei Jahren befindet sich der Libanon in einer politischen Blockade. Die notorisch zerstrittenen politischen Akteure konnten sich nicht auf einen neuen Präsidenten einigen. Doch der Krieg und die damit einhergehende Zerstörung des Landes erhöhen den Druck auf die politischen Eliten. In den vergangenen Wochen mehrten sich Berichte über diskrete Treffen und eine neue Kompromissbereitschaft. Insbesondere die Gegner der Hisbollah sehen in der Wahl eines neuen Präsidenten eine Chance, den Krieg zu beenden und die Autorität des Staates wiederherzustellen.

„Welche andere Möglichkeit haben wir?“, fragt Samy Gemayel, der die christliche Kata’ib-Partei führt, im Gespräch mit der F.A.Z.. „Die einzige Chance, die wir heute haben, ist, dass der Staat seiner Verantwortung nachkommt, den Notstand ausruft, um internationale Unterstützung bittet und die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates durchsetzt.“ Ähnlich äußern sich auch Vertreter anderer Parteien aus dem Anti-Hisbollah-Lager.

Ihr gemeinsames Ziel ist ein starker Staat, der in der Lage ist, nicht staatliche Akteure wie die Hisbollah in ihre Schranken zu weisen und zu verhindern, dass der Libanon zum Schauplatz fremder Konflikte, wie dem zwischen dem Iran und Israel, wird. Doch guter Wille allein wird nicht ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen. „Solange die Hisbollah noch kämpfen will, wird dies schwer zu erreichen sein“, gibt Samy Gemayel zu bedenken.

Die Hisbollah, die vom Iran unterstützt wird, ist zwar militärisch und politisch noch immer eine Macht im Libanon, doch der Krieg hat auch an ihr gezehrt. Mit Hassan Nasrallah wurde nicht nur der Anführer der Organisation getötet, sondern auch weite Teile der Führungsspitze. Das Raketenarsenal und die militärische Infrastruktur der Hisbollah wurden durch die israelischen Angriffe stark dezimiert.

Insider der libanesischen Politik berichten, dass arabische Golfstaaten wie Katar und Saudi-Arabien sowie die USA die Gunst der Stunde nutzen wollen, um die Hisbollah weiter zu schwächen. „Es ist klar, dass die Menschen in Libanon ein Interesse, ein starkes Interesse daran haben, dass der Staat sich durchsetzt und Verantwortung für das Land und seine Zukunft übernimmt“, sagte US-Außenminister Antony Blinken am Freitag.

Die Hisbollah selbst hat deutlich gemacht, dass sie keine Entscheidung in der Präsidentenfrage zulassen will, solange sie militärischem Druck ausgesetzt ist. Naim Qassem, derzeitiger Übergangsanführer der Organisation, fordert einen Waffenstillstand als Voraussetzung für die Wahl eines neuen Präsidenten.

Doch nicht nur militärisch, auch politisch ist die Hisbollah durch den Krieg geschwächt. Ihre politischen Vertreter und Parlamentsabgeordneten leben in ständiger Angst vor israelischen Drohnenangriffen. Die israelische Luftwaffe bombardiert Einrichtungen des parallelen Wohlfahrtsstaates, den die Hisbollah aufgebaut hat. Darunter befinden sich auch medizinische Einrichtungen und Zivilschutzeinrichtungen.

Der Tod von Hassan Nasrallah wiegt besonders schwer. Er war nicht nur Anführer einer Terrororganisation, sondern auch ein charismatischer Politiker mit großem Einfluss im Libanon. Mit ihm und anderen hochrangigen Kadern ist jener Teil der Hisbollah-Führung eliminiert worden, der den Weg der Organisation in die libanesische Politik maßgeblich vorangetrieben hat. „Hassan Nasrallah war ein politisches Tier“, sagt Mohanad Ali Hage, Hisbollah-Experte der Denkfabrik Carnegie, gegenüber der F.A.Z.. „Die Generation, die ihm folgt, ist ideologischer geprägt, unerfahrener und weniger offen für das übliche politische Feilschen.“

Hage befürchtet, dass die Hisbollah durch den Tod ihrer erfahrenen Führungsriege noch stärker zu offener Gewalt greifen könnte, um ihre Ziele zu erreichen. Bereits unter Nasrallah hatte die Organisation in der Vergangenheit Mordanschläge und Autobombenanschläge verübt, um politische Gegner auszuschalten.

Unter der libanesischen Bevölkerung, insbesondere unter jenen, die den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 miterlebt haben, wächst die Angst vor neuen inneren Kämpfen. Die aktuellen Ereignisse wecken alte Ängste und Traumata und lassen die alten Bruchlinien zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen wiederaufbrechen.

Auch deshalb fordern die Gegner der Hisbollah jetzt einen starken Staat und Rechtsstaatlichkeit, anstatt Kampfansagen an einen geschwächten Gegner zu machen. „Wir wollen nicht über Leichen gehen. Wir wollen keine Gewalt. Wir wollen nicht, dass unser Land zerstört wird. Und wir wollen nichts sagen, was in irgendeiner Weise so ausgelegt werden könnte, als würden wir in diese Richtung arbeiten“, sagt Samy Gemayel.

Derzeit wird die leise Hoffnung, dass der Krieg die Chance für einen politischen Neuanfang im Libanon eröffnen könnte, noch vom allgegenwärtigen Horror der Gegenwart überlagert. Hunderttausende Kriegsvertriebene stellen eine zusätzliche Belastung für ein Land dar, das bereits vor dem Krieg am Rande des Abgrunds stand. Die Menschen aus den bombardierten Hisbollah-Hochburgen, die meisten von ihnen Schiiten, werden nicht überall im Land willkommen geheißen.

Sollte es den Vertriebenen nicht möglich sein, in ihre zerstörte Heimat im Süden und Osten des Libanon zurückzukehren, drohen neue Spannungen. Auch deshalb drängen libanesische Politiker und westliche Regierungen auf einen Waffenstillstand. Mohanad Hage Ali sieht keinen politischen Sinn in einer Fortsetzung des Krieges. „Je länger er andauert, je weiter die Zerstörung voranschreitet, desto hässlicher wird das sein, was am Ende herauskommt“, so sein Fazit.

Quelle: F.A.Z.

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