September 30, 2024
Österreichs Verfassung im Spannungsfeld von Wandel und Stabilität

In Österreich ist die Bundesverfassung, wie in vielen anderen europäischen Demokratien auch, ein bedeutendes Dokument. Derzeit wird sie durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen verkörpert. Nach den Wahlen zum Nationalrat steht er nun vor der Aufgabe, das Ergebnis zu interpretieren und zu entscheiden, ob Herbert Kickl von der FPÖ den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten soll. Kickl könnte sich bei dieser Entscheidung auf die Unterstützung von fast 1,4 Millionen Wählerinnen und Wählern berufen, die sich für einen Wandel in Österreich in seinem Sinne ausgesprochen haben. Das berichtet die F.A.Z..

Im Gegensatz zu Deutschland hat sich der Verfassungsschutz in Österreich noch nicht dazu geäußert, ob die von der FPÖ angestrebten Veränderungen die Republik so grundlegend verändern würden, dass der Bundespräsident als Hüter der Verfassung einschreiten müsste. Beispielsweise indem er Kickl bei der Regierungsbildung umgeht. Ähnlich wie die AfD in Deutschland spielt die FPÖ bewusst mit der Doppeldeutigkeit, dass sie „das System“ zwar überwinden will, aber zuerst selbst die Kontrolle darüber erlangen möchte.

Wer mit wem und zu welchen Bedingungen?

Üblicherweise treten die Spitzenkandidaten der Parteien in Österreich kurz nach der ersten Hochrechnung vor die Kameras des ORF, um erste Signale für bevorstehende Koalitionsverhandlungen zu senden. Bereits während der zahlreichen Diskussionsrunden im Wahlkampf stand die Frage im Vordergrund: Wer kann sich eine Zusammenarbeit mit wem vorstellen und unter welchen Bedingungen? Der Philosoph Jacques Rancière hat das Wesen der Politik einmal mit dem Begriff „Das Unvernehmen“ beschrieben. Diese komplexe theoretische Figur findet in der aktuellen Situation eine interessante Entsprechung.

Wenn Politik im Sinne Rancières „unvernehmlich“ betrieben wird, anstatt letztendlich in einer Art Notlösung zu einer Koalition zu führen, geht es nicht nur darum, die Macht im Staat gemäß den prozentualen Stimmanteilen zu verteilen. „Unvernehmlich“ bedeutet immer auch, dass das System selbst zur Disposition steht, während gleichzeitig festgelegt wird, wer welche Sozialleistungen unter welchen Bedingungen erhält oder wie hoch die Steuerlast für große Vermögen sein soll. Herbert Kickl, der sich selbst gerne als „Volkskanzler“ sehen würde, möchte Österreich in eine Vergangenheit zurückführen, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Gleichzeitig verkörpert er aber auch eine Avantgarde, einen Systemsprenger, der zunächst den Vorsitz dieses Systems übernehmen möchte.

Am Wahlabend wurde wiederholt die „Schönheit“ der Verfassung betont. Sie gilt als schön, weil sie im Idealfall sicherstellt, dass im Zusammenspiel der Institutionen ein Konsens gefunden werden kann, der das „Unvernehmen“ einhegt. Schön ist sie auch, weil man sich flexibel auf sie berufen kann. Kickl sprach von der relativen Mehrheit der FPÖ, als ob es sich dabei um eine absolute Mehrheit handeln würde. Franz Nehammer, der amtierende Bundeskanzler der ÖVP, versuchte zumindest einmal, Kickl inhaltlich mit seinem „schillernden Tanz am Rande des Verfassungsbogens“ zu konfrontieren. Da Politiker jedoch Meta-Ebenen scheuen, ließ er dieses Thema schnell wieder fallen. Dabei spielen sich auch in Österreich auf diesen Ebenen entscheidende Dinge ab.

Die FPÖ will das Leitmedium zu einem Exekutivorgan machen

Der ORF nimmt in Österreich eine eigene Meta-Ebene ein. Er ist längst nicht mehr nur der öffentlich-rechtliche Sender, der sich in einem Proporzsystem aus Länderinteressen und Regierungsbeteiligungen über das kleine Land inmitten Europas erstreckt. Dennoch bleibt der ORF eine begehrte Trophäe innerhalb des Systems. Herbert Kickl würde ihn am liebsten „erlegen“, das heißt, zu einem Instrument des Staates machen, in dem er regiert. Allerdings gehen auch die anderen Parteien nicht zimperlich mit dem ORF um. Es gibt eine eigene österreichische Regierungskunst im Umgang mit den relevanten Gremien. Aber auch hier gibt es wieder einen Unterschied: Während die einen das Leitmedium gerne unter sich aufteilen würden, möchte die FPÖ es zu einem reinen Exekutivorgan umfunktionieren.

Beate Meinl-Reisinger von der liberalen Partei NEOS, die am Wahlabend ebenfalls einen Erfolg verbuchen konnte, erklärte, warum Koalitionsverhandlungen mit Kickl aus ihrer Sicht sinnlos wären: Es fehle an einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage. Österreich hat sich gegen die Routine eines Systems aufgelehnt, das die wenigsten wirklich missen möchten, sollte es tatsächlich einmal scheitern. Nun wird sich zeigen, ob die FPÖ mit Kickl an der Spitze in Schönheit stirbt (in der Opposition) oder ob es zu einem unschönen, „unvernehmlichen“ Pakt kommt, den der Bundespräsident mit gerunzelter Stirn unterzeichnen muss.

Quelle: F.A.Z.

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