19.10.2024
Versäumnisse im Asylsystem: Der Fall Solingen im Fokus

Messerattacke in Solingen: Chronik einer gescheiterten Abschiebung

Issa Al H., der mutmaßliche Messerangreifer von Solingen, hätte bereits im vergangenen Jahr aus Deutschland nach Bulgarien überstellt werden sollen. Doch verschiedene Versäumnisse der Behörden und fehlende Flugmöglichkeiten führten dazu, dass er im Land blieb. Am 23. August 2024 soll der 26-jährige Syrer auf dem Solinger Stadtfest drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt haben. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Warum scheiterte seine Rückführung?

Die Ankunft in Deutschland

Issa Al H. stellte Ende Januar 2023 einen Asylantrag bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Bielefeld. Eine Regelabfrage ergab, dass er zuvor bereits einen Asylantrag in Bulgarien gestellt hatte. Am 7. Februar 2023 stellte das Bamf gemäß den Dublin-Regeln der EU ein Übernahmeersuchen an Bulgarien, dem das EU-Land am 20. Februar zustimmte. Ab diesem Zeitpunkt begann eine sechsmonatige Frist für seine Rückführung. Al H. wurde in einer Notunterkunft in Paderborn untergebracht.

Am 16. März 2023 ordnete das Bamf die Überstellung nach Bulgarien an. Für die Durchführung war die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld zuständig. In Nordrhein-Westfalen gibt es fünf solcher Behörden, wobei eine ZAB für das gesamte Bundesland zuständig ist und vom Bamf beauftragt wird.

Die gescheiterte Abschiebung

Am 21. März 2023 meldete die ZAB den Flug nach Bulgarien bei der zuständigen Zentralstelle für Flugabschiebungen in Nordrhein-Westfalen an. Der Zugriff in der Notunterkunft war für den 5. Juni 2023 um 2.30 Uhr geplant, um Al H. nach Düsseldorf zu bringen, von wo aus der Abflug um 7.20 Uhr erfolgen sollte. Doch Al H. war an diesem Tag nicht anzutreffen, obwohl er am 4. Juni noch anwesend war und am 5. Juni tagsüber auch wieder in der Unterkunft erschien.

Ob er gewarnt worden war, ist bis heute unklar. Die Zentralen Ausländerbehörden kündigen Überstellungen laut Ministerium nicht im Voraus an. Es wurde jedoch festgestellt, dass Al H. nicht untergetaucht war, was auch von der nordrhein-westfälischen Flüchtlings- und Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) bestätigt wurde. Hätte er sich tatsächlich versteckt, hätte das Bamf die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängern können.

Beschränkungen beim Zugriff

Im Jahr 2023 durften die Behördenvertreter nach damaliger Gesetzeslage nicht andere Räume der Flüchtlingsunterkunft durchsuchen. Erst seit Anfang 2024 ist ein neues Gesetz in Kraft, das den Vollzug von Abschiebungen effektiver gestalten soll. Dieses Gesetz erlaubt es den Behördenvertretern, in Gemeinschaftsunterkünften auch andere Räume als das Zimmer des abzuschiebenden Asylbewerbers zu betreten.

Versäumnisse der Behörden

Die Leitung der Notunterkunft in Paderborn meldete das Wiederauftauchen von Issa Al H. nicht an die ZAB in Bielefeld. Laut Ministerin Paul war dies ein Versäumnis, jedoch gab es zu diesem Zeitpunkt keine entsprechende Vorschrift, die eine solche Meldung vorgeschrieben hätte. Die ZAB unternahm zudem keinen weiteren Versuch, einen neuen Rückführungsflug für Al H. nach Bulgarien zu organisieren. Möglicherweise ging die ZAB davon aus, dass innerhalb der bis zum 20. August laufenden Rückführungsfrist ohnehin kein Flug mehr verfügbar sein würde.

Zu wenige Tickets für Abschiebungen

Die strengen Vorschriften für Abschiebeflüge, die die betreffenden EU-Länder selbst aufstellen, erschwerten die Situation zusätzlich. Im Fall Bulgarien dürfen Abschiebeflüge nur von Montag bis Donnerstag zwischen 9 und 14 Uhr ausschließlich in der Hauptstadt Sofia landen. Eine Überstellung auf dem Landweg oder per Charterflug ist nicht erlaubt. Eine Airline darf maximal zwei abzuschiebende Personen pro Flug befördern. Dies führt dazu, dass theoretisch nur etwa zehn Abschiebungen pro Woche nach Bulgarien möglich sind, was die Rückführungen erheblich einschränkt.

Der Verbleib in Solingen

Nach Ablauf der sechsmonatigen Frist wurde Issa Al H. vom Bamf in das nationale Verfahren übernommen, was bedeutet, dass sein Asylantrag nun vom Bamf geprüft wurde. Ende August 2023 wurde Al H. nach Solingen überwiesen. Am 13. Dezember 2023 erhielt er vom Bamf den sogenannten subsidiären Schutz, was zur Folge hatte, dass die ausländerrechtliche Zuständigkeit von der ZAB auf die dortige kommunale Ausländerbehörde überging.

Überstellungen in EU-Länder

Statistiken belegen, wie schwierig Überstellungen nach Bulgarien und in andere EU-Länder sind. Im ersten Halbjahr 2024 gab es deutschlandweit 164 Rückführungen nach den Dublin-Regeln nach Bulgarien. Allein Nordrhein-Westfalen stellte von Januar bis Juli 1126 Übernahmeersuchen an das Land, von denen Sofia jedoch nur etwa 426 akzeptierte. Tatsächlich überstellt wurden schließlich nur 25 Personen, was einem Anteil von knapp sechs Prozent entspricht.

In anderen EU-Ländern ist die Situation ähnlich. Italien stimmte von Januar bis Juli zwar rund 1470 von fast 1750 Übernahmeersuchen aus Nordrhein-Westfalen zu, jedoch kam es zu keiner einzigen Überstellung. Griechenland akzeptierte lediglich 29 von 2388 Übernahmeersuchen aus Nordrhein-Westfalen, ohne dass es zu einer Überstellung kam. Ministerin Paul zog das Fazit, dass dieses System „so komplex und im Kern dysfunktional“ sei.

Schlussfolgerung

Der Fall von Issa Al H. wirft grundlegende Fragen über die Effizienz und Funktionsweise des Asylsystems in Deutschland auf. Die Vielzahl an Versäumnissen und die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Dublin-Regeln führen zu einer kritischen Diskussion über notwendige Reformen im Asylrecht. Die Ereignisse in Solingen haben nicht nur tragische menschliche Konsequenzen, sondern auch weitreichende politische Implikationen, die die Debatte über Migration und Sicherheit in Deutschland neu entfachen.

Die Aufarbeitung der Geschehnisse und die Verantwortlichkeiten der beteiligten Behörden sind nun von zentraler Bedeutung, um ähnliche Vorfälle in der Zukunft zu verhindern.

Quellen: faz.net, dpa, stern.de, tagesschau.de, spiegel.de, zdf.de

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