Mitten am Tag wird am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin ein Mann hinterrücks erschossen. Es dauert Jahrzehnte, bis der Fall im wiedervereinigten Deutschland vor Gericht kommt. Rund 50 Jahre nach der Tat hat das Landgericht Berlin einen Ex-Stasioffizier wegen Mordes verurteilt. Wie die dpa berichtet, verhängte das Gericht eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren gegen den inzwischen 80 Jahre alten Mann aus Leipzig.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte zwölf Jahre Haft beantragt. Laut Urteil erschoss der damalige Oberleutnant am 29. März 1974 aus einem Hinterhalt heraus den 38 Jahre alten Polen Czesław Kukuczka im Auftrag des DDR-Geheimdiensts. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Die Verteidigerin des Angeklagten hatte einen Freispruch gefordert. Es sei nicht erwiesen, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei, so Rechtsanwältin Andrea Liebscher. Der Achtzigjährige hatte vor Gericht zu den Vorwürfen geschwiegen; seine Verteidigerin hatte zu Prozessbeginn erklärt, ihr Mandant bestreite diese.
Laut Anklage gehörte der Sachse einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an und war mit der „Unschädlichmachung“ des Polen beauftragt worden. Zuvor soll dieser in der polnischen Botschaft versucht haben, seine Ausreise nach Westberlin mit einer Bombenattrappe zu erzwingen.
Das MfS soll den Achtunddreißigjährigen mit einer fingierten Ausreise in eine Falle gelockt haben. Er habe Dokumente erhalten und sei von Stasimitarbeitern zum Bahnhof Friedrichstraße begleitet worden. Als er dort jedoch den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss.
Es waren westdeutsche Schülerinnen einer 10. Klasse, die zufällig Zeuginnen der Tat wurden. Sie hatten Ostberlin besucht und wollten zurück in den Westen der damals geteilten Stadt. Eindrucksvoll schilderten mehrere damalige Schülerinnen aus Hessen vor Gericht die Geschehnisse – und ihre Angst und Fassungslosigkeit.
Damals gab es eine erfolglose Anfrage an die Justiz im Osten, wie ein Berliner Kommissar im Prozess schilderte. Der Polizist bekam die alten Akten für die neuen Ermittlungen auf den Tisch. Doch über viele Jahre hinweg gab es keine Fortschritte.
Erst im Jahr 2016 lieferte das Stasi-Unterlagen-Archiv einen entscheidenden Hinweis zur möglichen Identität des Schützen: Ein vom damaligen Staatssicherheitsminister Erich Mielke unterzeichneter Befehl nannte zwölf MfS-Mitarbeiter, die im Kontext der Tötung ausgezeichnet werden sollten. Der Angeklagte wurde laut Schriftstück von der Stasi mit dem „Kampforden in Bronze“ ausgezeichnet.
Die Staatsanwaltschaft ging zunächst jedoch von einem Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, weil die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre. 2023 erhob die Staatsanwaltschaft Berlin jedoch Anklage, weil sie inzwischen das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt sah. Hintergrund für die neue Bewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf polnischer Seite.
Der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka hatte zu Prozessbeginn deutlich gemacht, wo die Schwierigkeit rund 50 Jahre nach der Tat liegt: „Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen.“ Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien. Es ging vor allem um den Vorschlag
Quellen:
- dpa