19.10.2024
Fortschritte in der Neurowissenschaft: Die Rekonstruktion des Fliegenhirns als Schlüssel zum Verständnis neuronaler Netzwerke

Neurowissenschaften: Spektakuläre Rekonstruktion eines Fliegenhirns

Ein internationales Forscherteam hat einen bedeutenden Schritt im Bereich der Neurowissenschaften erzielt: Ihnen gelang die vollständige Rekonstruktion des Gehirns einer ausgewachsenen Fruchtfliege. Die Forschungsergebnisse wurden im renommierten Fachmagazin "Nature" veröffentlicht. Das Team unter US-amerikanischer Leitung konnte im Detail aufzeigen, wo sich die rund 140.000 Nervenzellen im Fliegenhirn befinden und wie diese miteinander verbunden sind.

Die Entschlüsselung des Fliegenhirns ist ein Meilenstein in der Hirnforschung. Bereits in der Vergangenheit konnten Wissenschaftler wichtige Erkenntnisse über die Funktionsweise von Nervenzellen und Lernprozessen gewinnen, indem sie die Gehirne von einfacheren Lebewesen untersuchten. Der Biochemiker Eric Kandel erhielt im Jahr 2000 den Nobelpreis für seine bahnbrechenden Arbeiten am Nervensystem von Meeresschnecken, die etwa 20.000 Neuronen besitzen. In den Folgejahren gelang es Forschern, die neuronalen Netzwerke des Fadenwurms C. elegans (300 Neuronen) und von Fruchtfliegenlarven (3.000 Neuronen) vollständig zu rekonstruieren.

Das Gehirn einer ausgewachsenen Fruchtfliege, etwa so groß wie ein Mohnkorn, stellt mit seinen knapp 140.000 Neuronen eine deutlich größere Herausforderung dar. Zum Vergleich: Das menschliche Gehirn verfügt über rund 600.000 Mal mehr Neuronen. Im Durchschnitt ist jede Nervenzelle der Fruchtfliege mit 360 anderen Zellen verbunden, wie das Forscherteam berichtet.

Um den "Schaltplan" des Fliegenhirns, das sogenannte Konnektom, zu erstellen, analysierte das Team 21 Millionen elektronenmikroskopische Aufnahmen von über 7.000 Gewebeproben. Diese stammten aus dem Gehirn einer einzelnen weiblichen Fruchtfliege. Um diese gewaltige Datenmenge zu bewältigen, setzten die Wissenschaftler automatisierte Algorithmen ein und erhielten zusätzliche Unterstützung durch Computerspieler, die sich im Rahmen des Forschungsprojekts "FlyWire" engagierten.

„Es ist ein Meilenstein“, kommentiert der Neurowissenschaftler Moritz Helmstaedter, Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, die Ergebnisse des Projekts gegenüber der FAZ. Helmstaedter war nicht an dem Forschungsvorhaben beteiligt. „Mit dem Konnektom kann man die grundlegende Frage, welche Zelltypen es gibt, abschließend klären. Beim Verständnis des Verhaltens der Fliegen stehen wir jetzt auf einer ganz anderen Basis.“

Obwohl das Fliegenhirn leistungsfähiger ist als ein Computer, so John Ngai, Direktor der Initiative "Brain" der amerikanischen National Institutes of Health, die das Projekt mitfinanzierte, "verstehen wir seine zugrundeliegende Logik größtenteils noch nicht". Die Entschlüsselung des Konnektoms ermöglicht es nun, die Funktionsweise des Fliegenhirns im Detail zu erforschen und neue Erkenntnisse über die neuronalen Grundlagen von Verhalten zu gewinnen.

Die Rekonstruktion des Gehirns einer einzelnen Fliege ist laut Helmstaedter ausreichend, da "wir bei Fruchtfliegen noch in einem Bereich sind, wo wir davon ausgehen können, dass der allergrößte Teil des Gehirns zwischen Individuen gleich ist".

Helmstaedter selbst forscht am menschlichen Konnektom, allerdings beschränken sich die Untersuchungen bislang auf sehr kleine Bereiche des Gehirns. Obwohl die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen begrenzt ist, da sich neuronale Schaltkreise im Laufe der Evolution stark verändert haben, sieht Helmstaedter die Entschlüsselung des Mäusegehirns als nächsten wichtigen Meilenstein. Das Gehirn einer Maus umfasst etwa 75 Millionen Nervenzellen – ungefähr ein Tausendstel der Anzahl beim Menschen.

Quelle: FAZ.NET

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