16.11.2024
Wohnraumgerechtigkeit Wie gerecht finden Deutsche die Wohnungsverteilung

So denken Deutsche über Gerechtigkeit

Das Thema Gerechtigkeit beschäftigt die deutsche Gesellschaft auf vielfältige Weise. Was als gerecht empfunden wird, ist jedoch nicht immer eindeutig und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) am 16.11.2024 berichtete, unterscheidet die soziologische Forschung grob zwischen zwei Gerechtigkeitsprinzipien: der Leistungs- und der Bedürfnisgerechtigkeit.

Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass die Belohnung proportional zur erbrachten Leistung sein sollte. Wer mehr leistet, soll auch mehr erhalten. Die Bedürfnisgerechtigkeit hingegen fokussiert auf die Bedürfnisse des Einzelnen. Sie besagt, dass Menschen, die aufgrund von Krankheit, Alter oder familiären Verpflichtungen nicht die gleiche Leistung erbringen können, dennoch Unterstützung erhalten sollten. Die F.A.S. berichtet von der Herausforderung der Sozialpolitik, die Gesetzgebung mit den dominierenden Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung in Einklang zu bringen.

Eine Studie des Konstanzer Sozialwissenschaftlers Felix Wolter, die in der F.A.S. vorgestellt wurde, untersuchte das Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen anhand von Wohnungsgrößen. In einem Vignetten-Experiment bewerteten die Teilnehmer fiktive Wohnsituationen hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit. Dabei wurden Faktoren wie Familienstand, beruflicher Status, Leistungsbereitschaft, Wohnungsgröße und Miethöhe berücksichtigt.

Die Ergebnisse zeigten, dass die Befragten Bedürftigkeit tendenziell über Leistung und Leistung über Status stellten. Familien mit Kindern wurden als benachteiligt wahrgenommen, während Manager und Ärzte mit vergleichsweise großzügigen Wohnverhältnissen als "ungerecht gut" gestellt galten. Krankenschwestern und Fabrikarbeitern wurden hingegen bessere Wohnbedingungen zugestanden. Arbeitslose sollten sich laut den Befragten mit einer Verschlechterung ihrer Wohnsituation arrangieren, während Leistungsbereitschaft, ob im Beruf oder bei der Jobsuche, eine bessere Wohnung rechtfertige.

Die Studie ermittelte auch eine als gerecht empfundene Miethöhe von 14 Euro pro Quadratmeter. Familien mit Kindern sollten jedoch ein Drittel weniger Miete zahlen und ein Drittel mehr Wohnraum zur Verfügung haben. Die F.A.S. weist darauf hin, dass die Studie Schwächen hat, da nur Mieter befragt wurden und die individuellen Unterschiede der Teilnehmer nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Dennoch liefert die Studie interessante Einblicke in das Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen. Die Bereitschaft, Kinder zu erziehen, wird offenbar als eine Art Leistung angesehen, die gesellschaftlich belohnt werden sollte. Gleichzeitig zeigt sich ein Verständnis dafür, dass die Verteilung knapper Güter wie Wohnraum nicht allein nach einem Gerechtigkeitsprinzip erfolgen kann. Bemerkenswert ist das schlechte Abschneiden eines hohen beruflichen Status als Begründung für einen Anspruch auf bessere Wohnbedingungen. Die Deutschen honorieren die Anstrengung, aber weniger das Erreichte, so die F.A.S..

Auch die Bertelsmann Stiftung hat sich mit dem Thema Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland auseinandergesetzt. Eine Studie aus dem Jahr 2022, die auf der Webseite der Stiftung veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen das Gefühl hat, es gehe im Land ungerecht zu. Dies betrifft sowohl die Verteilung von Gütern und Vermögen als auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Die Studie betont den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeitsempfinden und Vertrauen in Politik und Institutionen.

Auf dem Blog "Vielfalt leben - Gesellschaft gestalten" wird ebenfalls die Frage nach der Gerechtigkeit in Deutschland aufgeworfen. Ein Artikel vom 30. August 2021 verweist auf eine Umfrage, nach der nur eine Minderheit der Deutschen ihr Einkommen als gerecht empfindet. Der Artikel analysiert das Gerechtigkeitsempfinden anhand von sieben Wertemilieus und kommt zu dem Schluss, dass der Glaube an eine gerechte Welt eng mit dem persönlichen Erfolg verknüpft ist.

Die Robert Bosch Stiftung beleuchtet in einem Beitrag vom 30. Januar 2024 die "Lotterie des Lebens" und die damit verbundenen Ungleichheiten. Der Artikel betont, dass nicht die Unterschiede zwischen Menschen per se ungerecht sind, sondern die gesellschaftlichen Folgen, die aus diesen Unterschieden resultieren. Die Stiftung setzt sich für soziale Gerechtigkeit in den Bereichen Anerkennung, Repräsentation und Verteilung ein.

Schließlich befasst sich auch das Online-Magazin "aktiv-online" mit dem Thema Gerechtigkeit. In einem Artikel vom 5. September 2024 erklärt Professor Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft, wie Gerechtigkeit gemessen werden kann und welche Faktoren das Gerechtigkeitsempfinden beeinflussen. Er betont, dass Gerechtigkeit mehr als Gleichheit bedeutet und dass Leistungsanreize für eine funktionierende Marktwirtschaft unerlässlich sind.

Quellen:

  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.), 16.11.2024: Leistung und Bedürftigkeit: Das Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen
  • Bertelsmann Stiftung, 09.09.2022: Gefühlt ungerecht: Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland
  • Blog Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten, 30.08.2021: Alles was gerecht ist – Wie schätzen die Deutschen die Gerechtigkeit im Land ein?
  • Robert Bosch Stiftung, 30.01.2024: Die Lotterie des Lebens
  • aktiv-online, 05.09.2024: „Gerechtigkeit meint etwas anderes als Gleichheit“
  • www.sozialpolitik.com: Soziale Gerechtigkeit
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