24.10.2024
Die Dahiye im Krieg: Mehr als nur ein Hizbullah-Land

Auf den Fotos, die Monika Borgmann aus Beirut geschickt bekam, ist nur eine kleine Ecke des Gartens ihrer alten Villa zu erkennen. In dieser Ecke aber muss etwas eingeschlagen sein, vielleicht Trümmerteile. Der Garten sieht ziemlich verwüstet aus, und die Kamera, die die Hizbullah jenseits des Gartenzauns am Rand der Straße montiert hatte, baumelt schlaff an einem Kabel herunter. Die Hizbullah hatte ihre Gegner hier immer im Blick. Vermutlich hat sie jahrelang genau verfolgt, was bei „Umam“ geschah, wer ein- und ausging in dem Haus, das Monika Borgmann gemeinsam mit der Familie ihres ermordeten Mannes Lokman Slim bewohnt. Lokman Slim ist vor drei Jahren im Süden von Libanon getötet worden. Auf der nächtlichen Rückfahrt von einem Besuch bei Freunden wurde er entführt und mit mehreren Kopfschüssen hingerichtet, seine Leiche fand man am nächsten Tag in einem Auto an einer schmalen Straße.

Die Nachricht von seiner Hinrichtung erschütterte damals ganz Libanon. Slim war ein kluger, scharfer, furchtloser Kritiker der Hizbullah. Er entstammte einer schiitischen Familie, die ihre alteingesessene Villa in Haret Hreik, einem noblen Viertel im Beiruter Süden, nie verlassen hatte, was ihm und Monika Borgmann die Gelegenheit gab, das Anwesen in jahrelanger Arbeit zum Zentrum ihres politischen, kulturellen und archivarischen Engagements auszubauen. „Umam“ heißt ihre Institution, sie ist Ausstellungsraum, Denkfabrik und Archiv in einem. Ein Ort, der ermöglichen will, sich den Libanon der Zukunft als eine Einheit vorzustellen, die nicht in ihre konfessionellen Einzelteile zerfällt, von Korruption zerfressen und dem Hass auf Israel vergiftet ist. Dass „Umam“ in Haret Hreik und damit inmitten des Dahiye genannten, südlichen Teils von Beirut liegt, wo die Hizbullah das Sagen hat, machte die Sache nie einfacher.

Wo ist ein sicherer Ort?

„Wir sind das beste Beispiel dafür, dass nicht jeder, der in der Dahiye lebt, pro Hizbullah ist“, sagt Monika Borgmann nun, da sie von Berlin aus den Krieg in ihrer Wahlheimat verfolgt. Sie blickt mit wachsender Unruhe auf die israelischen Bombardements ihrer Nachbarschaft und des weiteren Südens von Beirut. Das israelische Militär hat recht, in dem weiten Gebiet, das die Dahiye umfasst, seine Feinde zu vermuten. Tief unter der Erde des Viertels Haret Hreik lag auch das Hauptquartier der Hizbullah, bei dessen Zerstörung ihr Anführer Hassan Nasrallah getötet wurde. Viele ranghohe Mitglieder der Hizbullah starben bei weiteren Angriffen in dieser Gegend. Aber die Dahiye ist riesig und dicht besiedelt. „Man kann seine Nachbarn nicht alle kennen“, sagt Borgmann. Ihre Sorge gilt nun besonders den Menschen, die bislang aus Opportunismus oder einem Schutzbedürfnis heraus der Hizbullah folgten, nach deren enormer Schwächung aber vielleicht zu zweifeln beginnen. „Diese Leute muss man jetzt gewinnen“, sagt sie. Die Hizbullah sei nicht nur militärisch zu besiegen, es müsse ein Umdenken einsetzen. Allerdings stünden die Menschen unter großem Stress. „Alle fragen sich: Wo können wir hin? Wo ist ein sicherer Ort?“

Die Dahiye und ihr Ruf

Auch Mona Harb, Professorin für Urbanistik und Politik an der American University of Beirut, wies unlängst darauf hin, dass die Dahiye weit weniger homogen sei, als es in diesen Kriegstagen oft den Anschein habe. Auf X (vormals Twitter) rief sie einige der vielen wissenschaftlichen Arbeiten in Erinnerung, die dem Süden von Beirut im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gewidmet wurden. Für Sozialforscher und Stadtplaner bot das Gebiet, das besonders seit den Fünfzigerjahren stetig wuchs und durch Kriege, Migrationswellen und den Zuzug von Flüchtlingen aus Palästina und Syrien geprägt wurde, immer wieder Stoff für Untersuchungen über die Herausbildung von sozialen Strukturen, über Gentrifizierung und Segregation, über die Rolle der Religion und die Herausforderungen des Zusammenlebens in einem Gebiet, das immer wieder zum Ziel von Angriffen wurde. Die Dahiye, so der Tenor vieler dieser Arbeiten, sei weit mehr als nur ein „Hizbullah-Land“.

Tatsächlich lebten hier schon immer Menschen unterschiedlicher Konfessionen zusammen, Christen und Drusen neben Schiiten und Sunniten. Auch wenn die Präsenz der Hizbullah in den vergangenen Jahrzehnten immer sichtbarer, ihre Macht immer größer wurde, so ist die Dahiye doch nie ganz in ihr Feindbild vom schiitischen Ghetto hineingewachsen. Das zeigte sich nicht zuletzt in den Protesten des Jahres 2019, als Menschen aus allen Teilen der libanesischen Gesellschaft auf die Straße gingen, um gegen Korruption und Misswirtschaft zu demonstrieren. Auch in der Dahiye gab es Proteste, und auch hier richtete sich der Zorn der Menschen gegen die eigene Führung.

Doch der Krieg hat die Karten neu gemischt. Die israelischen Angriffe haben die Dahiye schwer getroffen, viele Menschen haben ihr Zuhause verloren, die Infrastruktur ist zerstört. Die Hizbullah, die sich selbst als Schutzmacht der Schiiten im Libanon inszeniert, steht vor einem Scherbenhaufen. Ob es ihr gelingen wird, die Menschen in der Dahiye auch nach diesem Krieg wieder hinter sich zu vereinen, ist fraglich.

Der Krieg im Libanon ist mehr als nur ein Konflikt zwischen Israel und der Hizbullah. Er ist auch ein Kampf um die Zukunft des Libanon, um ein friedliches und demokratisches Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen. Die Dahiye, dieser Schmelztiegel der Kulturen und Religionen, ist ein Mikrokosmos des Libanon. Was hier passiert, wird Auswirkungen auf das ganze Land haben.

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