October 4, 2024
Das komplexe Spiel der Oberflächlichkeit in Ein neuer Sommer

„Nantucket!“ – dieser Ausruf, eine Mischung aus Faszination und Unbehagen, stammt von Herman Melvilles Erzähler Ismael in „Moby-Dick“. Er beschreibt damit ein Eiland vor der Ostküste Neuenglands, das „einsamer daliegt als der Leuchtturm von Eddystone“, einen windgepeitschten Ort, der seine Bewohner zum Lebensunterhalt hinaus aufs Meer zwingt – in einen „ewigen Krieg“ mit den Giganten der Tiefsee.

Doch die Zeiten ändern sich: In den einstigen Walfanggründen um Nantucket herrscht längst Frieden mit den Meeressäugern. Die raue Vergangenheit ist einer glitzernden Gegenwart gewichen. Wie auf der Nachbarinsel Martha’s Vineyard frönt man auch auf Nantucket einem Leben im Überfluss, umgeben von Luxus und Schönheit.

In diese Welt taucht die neue Netflix-Serie „Ein neuer Sommer“ ein, im Original treffender betitelt als „The Perfect Couple“. Basierend auf dem Roman der Bestseller-Autorin Elin Hilderbrand, die selbst auf Nantucket lebt, entspinnt sich ein mysteriöses Krimidrama. Im Mittelpunkt: eine Tote, die am Strand der Insel gefunden wird. Die Drehbuchautorin und Serienschöpferin Jenna Lamia hat die Geschichte für die Adaption neu interpretiert und bietet den Zuschauern eine eigene Auflösung des Rätsels.

Im Fokus der Inszenierung, die von der dänischen Regisseurin Susanne Bier („In einer besseren Welt“, „Birdbox“) verantwortet wird, stehen jedoch weniger die kriminalistischen Ermittlungen als vielmehr die schillernde Welt der Familie Winbury. In einer Blase aus Reichtum, Ruhm und obsessiver Selbstverliebtheit lebend, werden sie mit dem Mord an einer jungen Frau konfrontiert.

Die perfekte Oberfläche und die Risse dahinter

Die Serie besticht durch ihre opulente Ästhetik und erinnert an einen Hochglanz-Werbefilm, der perfekt auf die Welt der Protagonisten abgestimmt ist. Product-Placement einer Kopenhagener Schmuckmanufaktur und einer Londoner Destille unterstreichen den luxuriösen Lebensstil der Figuren.

An der Spitze des Ensembles steht Nicole Kidman als Greer, die Matriarchin des Winbury-Clans. Die Besetzung der 57-jährigen Schauspielerin in der Rolle der unfassbar erfolgreichen Schriftstellerin wirkt wie perfekt: Kidman verkörpert Reichtum, makellose Schönheit und undurchdringliche Kontrolle.

An ihrer Seite spielt Liev Schreiber ihren Ehemann Tag, der sich als Erbe des Familienvermögens durchs Leben bewegt. Das Paar hat zwei erwachsene Söhne: Der ältere, verheiratet mit der schwangeren Abby (Dakota Fanning), zeigt mehr Interesse an der „Freundin der Familie“, gespielt von Isabella Adjani. Der jüngere Sohn steht kurz vor der Hochzeit mit Amelia, einer jungen Frau aus weniger wohlhabenden Verhältnissen. Eve Hewson, die Tochter von U2-Sänger Bono, verleiht der Figur ihren einnehmenden Charme und bietet dem Publikum eine Identifikationsfigur innerhalb des privilegierten Kosmos der Winburys.

Obwohl Susanne Bier für ihre Regiearbeit an „In einer besseren Welt“ 2011 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, bleibt „Ein neuer Sommer“ hinter den Erwartungen zurück. Die Figurenzeichnung wirkt klischeehaft, die Dialoge oft vorhersehbar. Die Inszenierung der weißen Oberschicht und ihrer Probleme wirkt wenig innovativ, besonders vor dem Hintergrund aktueller Produktionen wie „Big Little Lies“, „White Lotus“ oder „Nine Perfect Strangers“, die sich mit ähnlicher Thematik auseinandersetzen.

Ein Hauch von Agatha Christie und die Sehnsucht nach Authentizität

Wie in einem klassischen Agatha-Christie-Krimi ist jeder der Hochzeitsgäste auf dem abgelegenen Anwesen ein potenzieller Verdächtiger. In Rückblenden, die die Perspektive immer wieder verschieben, entfaltet sich die Geschichte Stück für Stück, bis schließlich eine Person in Handschellen abgeführt wird.

Die Serie spielt mit der Diskrepanz zwischen der makellosen Fassade und den Abgründen, die sich dahinter verbergen. Die Ermittler spotten über die Selbstgefälligkeit der Superreichen, die sich für unantastbar halten. Die jungen Frauen, gefangen in der Welt des schönen Scheins, sehnen sich nach Authentizität, während um sie herum alles wie ein perfekt inszenierter Instagram-Post wirkt.

Doch trotz dieser vielversprechenden Ansätze gelingt es „Ein neuer Sommer“ nicht, zu einem bissigen Gesellschaftsporträt oder einem komplexen Familiendrama zu werden. Die Geschichte plätschert dahin, getrieben von den Oberflächlichkeiten ihrer Protagonisten und der visuellen Opulenz der Inszenierung.

„Ein neuer Sommer“ ist auf Netflix abrufbar.

Quelle: F.A.Z.

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