1.11.2024
Ostdeutschlands Demografischer Wandel Frauenmangel und Rückkehrperspektiven

Der demografische Wandel im Osten Deutschlands: Frauenmangel und seine Folgen

Ostdeutschland steht vor einer besonderen demografischen Herausforderung: dem Mangel an jungen Frauen. Wäre Ostdeutschland ein eigenständiger Staat, gehörte er zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung weltweit, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 01.11.2024 berichtete. Doch nicht nur das hohe Durchschnittsalter bereitet Sorgen, sondern auch das geschlechtsspezifische Ungleichgewicht. Bereits 2007 wies das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in der Studie „Not am Mann“ auf die europaweit beispiellosen Frauendefizite im Osten hin. Selbst in den dünn besiedelten Polarkreisregionen Schwedens und Finnlands, die ebenfalls unter Landflucht junger Frauen leiden, sei die Situation nicht so gravierend wie in Ostdeutschland, so die FAZ. Fast zwei Jahrzehnte später hat sich an diesem Befund wenig geändert. In ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts, Sachsens und Thüringens liegt der Männerüberschuss teilweise bei über 20 Prozent.

Die Abwanderung junger Frauen aus Ostdeutschland nahm ihren Anfang mit der Wiedervereinigung. Seit 1991 haben über 700.000 Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren den Osten verlassen, darunter viele Frauen, die in ihrer Heimatregion begrenzte Chancen sahen, ihre Lebensziele zu erreichen. Diese Frauen fehlen heute als Fachkräfte, in der Politik, bei der Familiengründung und in der Pflege älterer Menschen.

Ein Beispiel für den Wegzug und die Rückkehr in den Osten ist Katja Dietrich, die neue Oberbürgermeisterin von Weißwasser in der Oberlausitz. Wie die FAZ berichtet, ging Dietrich nach der Jahrtausendwende zunächst in den Westen zum Studieren. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt, unter anderem für die Vereinten Nationen und das Auswärtige Amt, kehrte sie 2022 zurück nach Sachsen. Ihre Motivation: Sie beobachtete aus der Ferne, dass in Sachsen „einiges schiefläuft“. Die Kandidatur eines AfD-Mannes, der kaum Bezug zur Stadt hatte, bestärkte sie in ihrem Entschluss, für das Amt der Oberbürgermeisterin zu kandidieren.

Weißwasser, eine ehemalige Glasbläserstadt in der Kohleregion Lausitz, befindet sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Bis 2038 soll der letzte Tagebau stillgelegt werden. Der Niedergang der Stadt begann bereits nach der Wende. Die Einwohnerzahl hat sich seit 1990 mehr als halbiert, die Geburtenrate ist stark rückläufig. Auch die AfD ist in Weißwasser stark vertreten. Bei der Landtagswahl erhielt sie fast 39 Prozent der Stimmen. Dietrich erhielt im Wahlkampf Unterstützung von regionalen Frauennetzwerken, die sich für die politische Beteiligung von Frauen einsetzen.

Franziska Stölzel, eine Sozialwissenschaftlerin aus der Region, engagiert sich ebenfalls für mehr Frauen in der Kommunalpolitik. Wie die FAZ berichtet, sieht sie die geringe Repräsentanz von Frauen in politischen Ämtern als großes Problem. In Sachsen sei es besonders schwierig, die bestehenden Männernetzwerke aufzubrechen. Stölzel selbst erfuhr Widerstände und sexistische Bemerkungen, als sie sich politisch engagieren wollte.

Die männliche Dominanz in der Oberlausitz zeigt sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Die Region ist stark technikfokussiert, während viele Frauen Berufe im Dienstleistungssektor bevorzugen. Oft fehlten auch grundlegende Dinge wie separate Toiletten und Umkleideräume für Frauen in technischen Berufen, so Stölzel gegenüber der FAZ.

Die Soziologin Katja Salomo, die lange zur Demografie in Ostdeutschland geforscht hat, sieht die Situation ähnlich. Sie spricht von einer „Krise der Frauen“, die diese dazu bewegt, den ländlichen Raum im Osten zu verlassen. Auch der rbb berichtete am 19.08.2024 über die Abwanderung junger Frauen und den daraus resultierenden Männerüberschuss in Brandenburg. Salomo betonte im Interview die historischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründe für dieses Phänomen. Sie wies auch auf den Teufelskreis hin, der durch die Abwanderung entsteht: Mit dem Wegzug junger Menschen schrumpft die Infrastruktur, was die Region für Familien noch unattraktiver macht.

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtete am 23.09.2023 ebenfalls über die Folgen des Frauenmangels im Osten. Der Artikel beschreibt die Situation in Suhl, einer Stadt in Thüringen, die seit der Wende ein Drittel ihrer Einwohner verloren hat. Auch hier sind es vor allem junge Frauen, die weggezogen sind. Die NZZ zitiert den Sozialgeografen Klaus Friedrich, der die demografische Entwicklung im Osten als „weltweit und historisch einzigartig“ bezeichnet.

Die Welt veröffentlichte am 07.09.2022 einen Artikel über den Frauenmangel im Osten und die damit verbundenen Herausforderungen. Der Artikel beschreibt die Situation in Schmölln, einer Kleinstadt in Thüringen, die einen eklatanten Männerüberschuss aufweist. Der Bürgermeister der Stadt, Sven Schrade, berichtet, dass auf 100 junge Frauen 132 junge Männer kommen.

Die Rheinische Post berichtete bereits am 30.05.2007 über die Abwanderung junger Frauen aus Ostdeutschland. Die Zeitung zitierte eine Studie des Berlin-Instituts, die den Bildungsvorsprung von Frauen als Hauptgrund für den Wegzug nannte. Die Studie warnte vor der Entstehung einer „neuen, von Männern dominierten Unterschicht“ in den wirtschaftlich schwachen Regionen des Ostens.

Der MDR berichtete am 15.05.2022 über den Männerüberschuss bei jungen Menschen im Osten. Der Artikel zitiert Peter Eibich vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung, der den höheren Bildungsgrad von Frauen und die fehlenden beruflichen Perspektiven in ländlichen Regionen als Hauptgründe für die Abwanderung nennt.

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