19.10.2024
Stadt der Träume: Disneys Einfluss auf urbane Lebensräume in Europa

Kolumne „Kunst der Woche“: Wie lebt man in einer von Disney entworfenen Stadt?

Im Osten von Paris, etwa 35 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, befindet sich eine Stadt, die auf den ersten Blick wie eine traditionelle französische Provinzstadt wirkt. Mit ihren mittelalterlichen Burgen, Sprossenfenstern, Mansarden und verträumten Fensterläden, die von schiefergedeckten Dächern überragt werden, vermittelt sie den Eindruck von Idylle und Geschichte. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich, dass diese Stadt eher einer Filmkulisse ähnelt, als einer lebendigen Gemeinschaft. Die Atmosphäre erinnert an romantische Komödien, in denen zufällige Begegnungen das Schicksal der Protagonisten bestimmen.

Diese Kulissenstadt ist jedoch mehr als nur eine Fiktion. Hier leben tatsächlich Tausende von Menschen, und die Ursache für das filmische Ambiente liegt in der Tatsache, dass die Stadt nicht von herkömmlichen Stadtplanern, sondern vom Disney-Konzern entworfen wurde. In den 1980er Jahren erhielt Disney die Erlaubnis, im östlichen Paris nicht nur einen weiteren Themenpark zu errichten, sondern gleich ein ganzes Tal zu gestalten, das heute als „Val d’Europe“ bekannt ist. Dieses Gebiet umfasst fünf neu gestaltete Städte, die alle den Charme eines idealisierten, alten Frankreichs ausstrahlen.

Die Städte Bailly-Romainvilliers, Chessy, Coupvray, Magny-le-Hongre und Serris wurden 1992 zusammen mit dem Euro Disney Resort eröffnet. Heute leben dort über 37.000 Menschen, und Disney hat insgesamt fünf Milliarden Euro in die Entwicklung investiert. Noch nie zuvor hatte ein Unternehmen in der Geschichte Frankreichs so viel Einfluss auf den Städtebau, und noch nie wurden moderne Baustile und Ideen, die nach dem Städtebau von Baron Haussmann und dem Ideal der Gartenstadt des 19. Jahrhunderts entstanden, so radikal ignoriert. Die Stadtplaner Cooper, Robertson & Partners aus New York sind bekannt für ihren Ansatz des New Urbanism, der versucht, Retortenstädte nach dem Vorbild alter europäischer Städte zu gestalten.

Die von Disney geschaffenen Städte im Pariser Osten sind ein Beispiel für eine doppelte ästhetische Rückkopplung zwischen verschiedenen Fiktionsebenen. Ein Teil des Pariser Ostens sieht nun so aus, wie es sich Amerikaner von Frankreich vorstellen, wobei diese Vorstellung stark von Disney-Filmen geprägt ist. Die Bewohner des Val d’Europe werden durch diese Architektur zu Darstellern ihrer eigenen Realität, die in einer Fiktionalisierung ihrer Existenz stattfindet.

Der Einfluss von Disney auf Architektur und Gesellschaft

Der Einfluss von Disney auf die Architektur und das Stadtleben wird derzeit in einer Ausstellung im Architekturmuseum Arc en Rêve in Bordeaux thematisiert. Diese Ausstellung, die bis zum 5. Januar 2025 zu sehen ist, trägt den Titel „L’architecture des réalités mises en scène: Re-construire Disney“. Fabrizio Gallanti, der das Museum seit 2021 leitet, zeigt, wie Disneys Fantasiewelten von der europäischen Architektur inspiriert wurden und wie sie im Gegenzug die Realität und die Architektur beeinflussten.

Gallanti hebt hervor, dass Architektur nicht nur Baukunst ist, sondern auch ein Spiegel der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Er verweist auf die Verbindung zwischen Hip-Hop und den modernen Sozialbauten der Bronx, in denen diese Musik in den 1970er Jahren entstand. Diese Verbindung zeigt, wie eng Architektur und soziale Strukturen miteinander verflochten sind.

Die Ausstellung in Bordeaux verdeutlicht, dass das Konzept des „Wohnen“ und die Vorstellung eines „schönen Hauses“ im 20. Jahrhundert maßgeblich von der Unterhaltungsindustrie geprägt wurden. Walt Disneys erste Reise nach Europa als 17-Jähriger, die ihn zu Burgen und Schlössern führte, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf seine späteren Märchenfilme und das Design des ersten Disneyland in den 1950er Jahren.

Die Ausstellung zeigt auch, wie traditionelle Architekten von Disneys Stil inspiriert wurden. Während Walt Disney in den 1930er Jahren noch moderne Bauhaus-Elemente in seinen Studios umsetzte, verschwand die Moderne zunehmend aus Disneys Welt. In Paris verkaufte Disney den Franzosen eine Vorstellung von Frankreich, die stark von amerikanischen Filmen geprägt war. In Florida entstand in den 1990er Jahren die Kleinstadt Celebration City, die im traditionellen Stil einer Kolonialstadt des 19. Jahrhunderts gestaltet wurde. Marktforschung hatte ergeben, dass die Amerikaner sich eine solche Stadt als ideal vorstellen.

Fazit

Die Ausstellung in Bordeaux zeigt den Sieg des Films und seiner nostalgischen Fantasien über die Moderne, die ihn hervorgebracht hat. Disney hat es geschafft, die nostalgischen Kulissen seiner Fiktionen immer weiter in die Realität der Zuschauer hineinzuschieben. Die Städte des Val d’Europe sind nicht nur ein Beispiel für modernen Städtebau, sondern auch ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Fiktion und Realität miteinander verwoben sind und wie die Vorstellung von einem Ort das Leben seiner Bewohner prägen kann.

Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist nicht nur für Architekten und Stadtplaner von Bedeutung, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Sie regt dazu an, über die Art und Weise nachzudenken, wie wir unsere Städte gestalten und welche Geschichten wir durch unsere Architektur erzählen.

Quellen: Frankfurter Allgemeine Zeitung.

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