19.10.2024
Kieferorthopädie bei Kindern: Wann ist eine Frühbehandlung wirklich erforderlich

Zahnschiefstand bei Kindern - nicht immer schlimm / Eine Frühbehandlung bei Kindern im Grundschulalter ist nur in Ausnahmefällen nötig

Wenn ein einzelner Milchzahn wild im Mund steht, ist das im Kleinkindalter kein Grund zur Sorge - und auch keiner für eine Zahnspange. Dies bestätigt ein Gutachten, das 2018 für das Bundesgesundheitsministerium erstellt wurde. Auch die sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie von 2022, durchgeführt vom Institut der Deutschen Zahnärzte, zeigt, dass etwa 40 Prozent der teilnehmenden Kinder im Alter von acht und neun Jahren ausgeprägte bis extrem ausgeprägte Fehlstellungen hatten, die eine Behandlung nötig machten. Doch wann ist eine Frühbehandlung wirklich sinnvoll?

Was spricht für eine kieferorthopädische Frühbehandlung?

Eine Frühbehandlung sollte wirklich nur dann vorgenommen werden, wenn das Wachstum des Kiefers beeinträchtigt ist, sich eine Fehlstellung verschlimmern würde oder später nur schwer zu behandeln wäre. Dies bestätigt auch das Gutachten von 2018, in dem es heißt: "Die Frühbehandlung soll ausschließlich in Ausnahmefällen stattfinden." Damit sind sogenannte Fehlbisse gemeint oder Diagnosen wie die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, die Auswirkungen auf das Kauen, Sprechen, Schlucken oder sogar die Atmung haben können.

Wie schlimm sind schiefe Zähne?

Wenn ein einzelner Milchzahn wild im Mund steht, ist das im Kleinkindalter kein Grund zur Sorge – und auch keiner für eine Zahnspange, sagt Dr. Moritz Försch, Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und Mitglied des Bundesvorstandes im Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden. Auch bei Zahnunfällen oder -verlust durch Karies wird eher selten kieferorthopädisch eingegriffen. Oftmals stellt sich bei kleinen Kindern der Schnuller als Ursache für eine Fehlstellung heraus. Dr. Johanna Kant vom Bundesverband der Kinderzahnärzte in München ergänzt, dass Platzmangel und Engstände, vor allem der Schneidezähne, im Alter von sechs bis zehn Jahren noch völlig normal seien und ein Eingreifen daher noch nicht nötig sei.

Wie läuft die kieferorthopädische Frühbehandlung ab?

In der Frühbehandlung bekommen die Kinder in der Regel ein herausnehmbares Gerät. Damit würden Breite oder Länge des Zahnbogens beziehungsweise der Zusammenbiss von Ober- und Unterkiefer korrigiert, so Moritz Försch. Eine feste Spange begradige in einer zweiten Behandlungsphase die Zähne lediglich noch. Dafür müsse der Kiefer aber schon in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein und dürfe nicht mehr weiter wachsen. Vielleicht verkürze sich die spätere Hauptbehandlung sogar durch das frühe Eingreifen oder mache sie überflüssig.

Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde in Mannheim, argumentiert dagegen, dass die herausnehmbaren Zahnspangen von den Kindern gar nicht so viel getragen werden können, wie es nötig wäre. Viele der Behandlungen endeten daher mit schlechten Ergebnissen oder Misserfolgen.

Wer zahlt die kieferorthopädische Frühbehandlung?

Die erste Anlaufstelle sollte immer die Zahnarztpraxis sein. Unter klar definierten Voraussetzungen übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten bei erheblichen Fehlstellungen – was genau als erheblich gilt, ist in einer Tabelle geregelt. Zunächst müssen Eltern trotzdem 20 Prozent der Gesamtkosten selbst tragen. Wird zeitgleich ein Geschwisterkind behandelt, sind es zehn Prozent. Wenn die Kieferorthopädin oder der Kieferorthopäde am Ende eine erfolgreich absolvierte Behandlung bescheinigt, bekommt man das gezahlte Geld zurück – daher sollte man Rechnungen und Unterlagen gut aufbewahren.

Ist eine Zweitmeinung zur kieferorthopädischen Frühbehandlung sinnvoll?

Bei Zweifeln oder einem unguten Gefühl sollte man unbedingt vor Behandlungsstart eine Zweitmeinung einholen und kritisch nachfragen. Dr. Henning Madsen aus Mannheim hält mit einer starken These auch nicht hinter dem Berg: Manche Aussagen seiner Kolleginnen und Kollegen zur kieferorthopädischen Frühbehandlung seien „leicht als von wirtschaftlichem Interesse geleitet zu durchschauen“. Denn die deutsche Gebührenordnung mache Behandlungen mit herausnehmbaren Zahnspangen etwa doppelt so profitabel wie mit festen Apparaten.

Wie erreicht man den bestmöglichen Erfolg?

Damit eine Spange schließlich tut, was sie soll, muss sie so häufig wie möglich getragen werden. Doch welches fünf- oder siebenjährige Kind mag beim Spielen mit anderen schon gern schwer zu verstehen sein, nur weil da dieses Ding im Mund steckt und sich überall Spucke sammelt? Wichtig ist also, dass den Eltern und auch dem Kind gut und plausibel erklärt wird, was genau das Problem ist und welche Folgen es haben kann, wenn man es nicht behandelt. Der Erfolg hängt oft vom Mitmachen der Eltern und der Patientinnen und Patienten ab. Älteren Kindern oder Jugendlichen kann man die Lage jedoch eher verständlich machen – und desto besser kommen sie mit der Zahnspange klar.

Das sind die häufigsten Fehlstellungen

- Starker Überbiss: Der Oberkiefer beißt so weit über den Unterkiefer, dass zwischen den oberen und unteren Zähnen knapp ein Zentimeter oder mehr Platz ist. Das kann an einer Fehlstellung der Zähne oder des Kiefers liegen. Die Folge: Der Mund schließt nicht richtig. Ein Überbiss kann dazu führen, dass die Seitenzähne beim Kauen nicht korrekt aufeinandertreffen. Das Risiko für Zahnschäden, zum Beispiel bei einem Sturz, ist hoch. - Unterbiss: Die unteren Schneidezähne liegen vor den oberen Frontzähnen. Kommt seltener vor als der Überbiss. Die Folge: Es kann zu Problemen beim Kauen und Beißen kommen. - Kreuzbiss: Vereinfacht gesagt beißen beim Kreuzbiss die Zähne von Unter- und Oberkiefer aneinander vorbei. Beispielsweise ist der Oberkiefer zu schmal. Dann fehlt später oben ausreichend Platz für die bleibenden Zähne.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Frühbehandlung bei Kindern im Grundschulalter nur in Ausnahmefällen nötig ist. Schiefe Zähne im Kleinkindalter sind meist kein Grund zur Sorge und bedürfen in der Regel keiner sofortigen kieferorthopädischen Intervention. Eltern sollten sich bei Unsicherheit stets eine Zweitmeinung einholen und sich umfassend beraten lassen, um die bestmögliche Entscheidung für ihr Kind zu treffen.

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