22.10.2024
Alexej Nawalnyjs Autobiografie Patriot Ein Leben im Widerstand gegen Putin

Im März 2022, als er bereits über ein Jahr inhaftiert war und in einem weiteren Verfahren zu neun Jahren Straflager verurteilt wurde, beschrieb Alexej Nawalnyj, wie er sich auf die Verkündung des Schuldspruchs vorbereitete. „Mir war von Anfang an bewusst, dass ich lebenslang im Gefängnis sitzen werde – entweder für den Rest meines Lebens oder bis zum Lebensende dieses Regimes“, schrieb er laut seiner Autobiografie, die am Dienstag erscheint. Wie die FAZ berichtet, bestand sein „Gefängnis-Zen“ darin, sich die schlimmsten Szenarien vor Augen zu führen und sie als nächtliches Training zu nutzen.

Diese Schilderung ist Teil seiner Autobiografie „Patriot“, die am Dienstag posthum in über zwanzig Sprachen erscheint. Das Schreiben begann er während seiner Behandlung in Deutschland, nachdem er im August 2020 vom russischen Geheimdienst FSB mit Nowitschok vergiftet worden war. In Haft, nach seiner Rückkehr nach Russland und der Festnahme im Januar 2021, setzte er die Arbeit fort. Seine Witwe kündigte die Veröffentlichung des unvollendeten Werks im April als seinen „letzten Brief an die Welt“ an.

Ein Sammelsurium aus Erinnerungen

Die Entstehungsbedingungen des Buches führten dazu, dass es, so Nawalnyj selbst, zu einem „Sammelsurium aus Episoden und Puzzleteilen, einer herkömmlichen Darstellung gefolgt von einem Gefängnistagebuch“ wurde. Die postume Veröffentlichung verstärkt diesen Eindruck. Nawalnyjs Aufzeichnungen wurden durch die immer härteren Haftbedingungen und Isolationshaft zunehmend sporadischer. Neben unveröffentlichtem Material finden sich daher auch Texte, die bereits zu Lebzeiten über seine Anwälte an die Öffentlichkeit gelangten.

Dennoch verliert das Buch nicht an Wirkung. Es zeigt Nawalnyj als charismatischen Redner, der Menschen für den Widerstand gegen Putin und für ein „wunderbares Russland der Zukunft“ begeisterte. Anders als andere Oppositionelle war er ein Volkstribun, der den Dialog mit den Menschen suchte und ihre Wut auf die Mächtigen lenkte. Ein Beispiel dafür ist sein Wahlkampfvideo aus Tomsk im August 2020, kurz vor dem Nowitschok-Anschlag. Darin prangert er die Korruption der lokalen Eliten an und zeichnet ein Bild der Stadt ohne die „blutsaugerischen Kreaturen, die sich zu Herren der Stadt erklärt haben“.

Humor und Selbstironie

Nawalnyj war ein Mann mit einer Mission, überzeugt von seiner Richtigkeit. Dennoch wirkte er nie verbissen. Seine Auftritte, Videobotschaften und Texte waren von Humor und Selbstironie geprägt. Er nahm seine Aufgabe ernst, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen. Diese Haltung zieht sich durch das gesamte Buch, von den Schilderungen des Giftanschlags und der Genesung bis zu den Gefängnisaufzeichnungen. Besonders deutlich wird sie, wenn er über seinen christlichen Glauben schreibt, der seit der Geburt seiner Tochter an Bedeutung gewann und ihn in seinem Handeln bestärkte.

Ein Leben im Kontext der russischen Geschichte

Nawalnyjs Bericht über seine Kindheit und Jugend in Armeesiedlungen, in denen seine Familie aufgrund der Offizierslaufbahn des Vaters lebte, ist mehr als eine persönliche Geschichte. Er bettet sein Erwachsenwerden in die sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen der späten Sowjetunion ein. Der Krieg in Afghanistan, die Tschernobyl-Katastrophe, aber auch Alltagserfahrungen wie das Schlangestehen für Milch, die Faszination für Kaugummis und die Freude über Rockmusik im Fernsehen prägten seine Jugend.

Seinen Weg in die Politik beschreibt Nawalnyj mit selbstironischer Distanz. Er schildert die Korruption an den Universitäten in den 1990er Jahren und wie er selbst die Regeln dieser Welt zu seinen Gunsten nutzte. Er sei ein „schüchterner Nerd“ gewesen, „der so tat, als wäre er ein cooler Typ“.

Der Kampf gegen die Korruption

Nawalnyjs politisches Engagement begann mit Wladimir Putins Machtantritt: „Seine Ernennung löste bei mir den Entschluss aus, mich zu wehren. Ich wollte nicht, dass so jemand an der Spitze meines Landes steht.“ Er trat der liberalen Partei Jabloko bei, deren Passivität ihn jedoch bald enttäuschte. Der Bruch mit der Partei markiert den Beginn der umstrittensten Phase seiner politischen Laufbahn. Jabloko schloss ihn wegen Nationalismus aus, doch Nawalnyj selbst sah den Grund in seiner Kritik am Parteichef Grigorij Jawlinskij.

Tatsächlich bewegte sich Nawalnyj in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre im Umfeld radikaler russischer Nationalisten. Er begründete dies später mit der Notwendigkeit, im Kampf gegen ein autoritäres Regime alle relevanten Kräfte zu vereinen. „Der Kern meiner politischen Strategie besteht darin, dass ich keine Angst vor Menschen habe und bereit bin, mit jedem einen Dialog zu führen“, schreibt er in seinen Memoiren.

Der Drang, Menschen zu erreichen

Immer wieder betont Nawalnyj in seinem Buch sein Bemühen, Menschen jenseits des Moskauer Liberalenmilieus zu erreichen. Deshalb machte er den Kampf gegen die Korruption zu seinem Hauptthema – sie betrifft Menschen aller Schichten und politischer Ansichten. Nawalnyj erkannte früh das Potenzial neuer Technologien und sozialer Medien und nutzte sie konsequent zur politischen Mobilisierung.

Vor der Präsidentschaftswahl 2018 gründete er in dutzenden russischen Städten sogenannte „Stäbe“. Sie entwickelten sich zu Anlaufstellen für Menschen, die mit der Politik unzufrieden waren. In Städten wie Wolgograd oder Tomsk waren sie bis zu ihrem Verbot wichtige Zentren des gesellschaftlichen Lebens.

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/alexej-nawalnys-autobiographie-patriot-110060456.html

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