19.10.2024
Antisemitismus und Psychoanalyse: Eine gesellschaftliche Herausforderung

Freuds Gedenken in Wien geschändet: Psychoanalyse gegen Judenhass

In Wien wurde der Gedenkstein für den Psychoanalytiker Sigmund Freud beschmiert. Dies hat eine erneute Diskussion über die Verbindung zwischen Psychoanalyse und Antisemitismus angestoßen. Die ursprüngliche Inschrift auf dem Denkmal lautete: „Die Stimme des Intellekts ist leise“. Diese wurde nun durch die Worte „Das Schweigen ist leise“ ersetzt, ergänzt durch das Wort „pervert“, was die antisemitischen Untertöne des Vandalismus verdeutlicht.

Freud, der als Begründer der Psychoanalyse gilt und jüdischer Abstammung war, steht symbolisch für die Verbindung zwischen dem Hass auf die Psychoanalyse und dem Antisemitismus. Die Schändung des Denkmals wirft die Frage auf, was der Judenhass mit dem Hass auf die Psychoanalyse gemein hat.

Der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Psychoanalyse

Im Juli 2023 hielt die Psychologin und Antisemitismusforscherin Ilka Quindeau die Frankfurter Adorno-Vorlesungen mit dem Titel „Spuren des Anderen: Antisemitismus aus psychoanalytischer Sicht“. Quindeau erinnerte daran, dass Theodor W. Adorno den Antisemitismus als Ausdruck des Irrationalen betrachtete. Laut Adorno ist Antisemitismus nicht mit rationalen Argumenten zu bekämpfen, da er keine Meinung ist, die widerlegt werden kann.

In seinem Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ aus dem Jahr 1959 erklärt Adorno, dass der Hass auf die Psychoanalyse eng mit dem Antisemitismus verknüpft ist. Dies sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass Freud Jude war, sondern weil die Psychoanalyse eine kritische Selbstreflexion fördert, die Antisemiten in Rage versetzt. Adorno sieht die Psychoanalyse als einen Weg, das Irrationale zu hinterfragen und somit einen Angriff auf die antisemitischen Reflexe in uns selbst darzustellen.

Neue Perspektiven auf Antisemitismus

Ilka Quindeau bietet eine erweiterte Perspektive, indem sie den Antisemitismus im Unbewussten verankert sieht. Diese Verschiebung ist bedeutend, da sie die Frage aufwirft, ob antisemitische Einstellungen tatsächlich in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen verankert sind oder ob Antisemitismus eine dysfunktionale Reaktion auf psychische Konflikte darstellt. Quindeau argumentiert, dass die Unfähigkeit, mit dem Anderssein des „Anderen“ umzugehen, eine zentrale Rolle spielt und dass diese Ambiguitätsintoleranz typisch für antisemitische Ideologien ist.

Die Rolle der Psychoanalyse im Kampf gegen Antisemitismus

Trotz der unterschiedlichen Ansätze von Quindeau und Adorno erkennen beide die Psychoanalyse als einen wichtigen Gegenspieler zu antisemitischen Einstellungen an. Sie fördert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbst und zwingt den Einzelnen, verborgene Aspekte des Selbst zu erkennen und Antisemitismus in seiner individuellen Komplexität wahrzunehmen. Die Ablehnung von Selbstkritik, die sowohl gegen das Judentum als auch gegen die Psychoanalyse gerichtet ist, zeigt eine strukturelle Ähnlichkeit.

Die Schändung des Denkmals für Freud ist ein Anlass, die Ursprünge des heutigen Antisemitismus tiefenpsychologisch zu betrachten. Freud selbst sagte: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.“ Diese Aussage könnte als Mahnung verstanden werden, dass der Kampf gegen Antisemitismus und die Förderung der Psychoanalyse als gesellschaftliches Projekt unvollendet sind und in einem fortwährenden Wechselspiel zwischen Bewusstheit und unbewussten Antrieben wirken.

Schlussfolgerung

Die Schändung des Sigmund-Freud-Denkmals in Wien ist nicht nur ein Akt des Vandalismus, sondern ein Spiegelbild der anhaltenden antisemitischen Strömungen in der Gesellschaft. Sie erinnert uns daran, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und die Förderung der Psychoanalyse als kritisches Werkzeug zur Selbstreflexion weiterhin von großer Bedeutung sind. Die Psychoanalyse bietet einen Raum, um die eigenen Vorurteile und Ängste zu hinterfragen und sich mit dem Anderssein auseinanderzusetzen. In einer Zeit, in der Antisemitismus wieder offen auftritt, bleibt die Frage, wie wir als Gesellschaft diesen Herausforderungen begegnen können.

Die Diskussion über die Bedeutung von Freuds Werk und die Relevanz der Psychoanalyse im Kampf gegen Antisemitismus ist aktueller denn je. Es ist wichtig, dass wir die Lehren aus der Vergangenheit nicht vergessen und uns aktiv gegen jede Form von Hass und Diskriminierung einsetzen.

Quellen: F.A.Z.

Weitere
Artikel