Wenngleich die künstlerische Urbesetzung der Arte Povera nur wenige Jahre Bestand hatte, blieb die Bewegung bis heute eine der einflussreichsten in der Kunst. Doch nicht nur bei Künstlern wie Jimmie Durham, David Hammons, Theaster Gates oder Pierre Huyghe fand und findet sie ein reiches Nachleben. Auch die Nachfrage beim eher kritischen Pariser Publikum nach Mario und Marisa Merz, Jannis Kounellis, Alighiero Boetti und Co. ist überraschend – bis zu dreitausend Besucher täglich zählt die Pinault Collection seit Eröffnung der Ausstellung, wie die FAZ berichtet.
Dabei scheint der Ort, die einstige Bourse de Commerce von Paris, der gänzlich falsche für eine Bewegung zu sein, die der Kunstkritiker Germano Celant 1967 „Ärmliche Kunst“ taufte. Das Argument griffe aber in mehrfacher Hinsicht zu kurz: Nicht nur besitzt der Multimilliardär Pinault, der den Rundbau vor Jahren prächtig sanieren und von Tadao Andō umbauen ließ, um ihn sodann der Öffentlichkeit als Museum zu übergeben, erstaunliche 150 Werke der Arte Povera. Auch das Gebäude selbst addiert einiges zur Ausstellung: Schon von Weitem erkennt man auf der Attika die Neonziffern von Mario Merz, die nicht nur exponentielles Wachstum verkörpern, was ja affirmativ zum einstigen Zweck des Börsengebäudes wäre, sondern auch die im Mittelalter vom Pisaner Mathematiker Fibonacci entdeckten Zahlen, nach denen alles in der Natur aufgebaut und gegliedert ist, etwa die Abfolge der Blütenblätter einer Blume. Die leuchtenden Merz-Ziffern verwandeln so nachts die Kuppel der Ex-Börse in ein riesiges Iglu, da sie wie Merz’ Urhütten im oberen Teil ebenfalls aus Glas besteht.
Auch vor dem Eingang wächst seit Ausstellungsbeginn ein Arte-Povera-Baum auf, der surreale Früchte trägt – in seine Äste eingeklemmt sind vier große weiße und vom Meer rundgeschliffene Findlinge. Der Baum selbst entpuppt sich beim Abklopfen als überschwere Bronzeskulptur. Sein Künstler Giuseppe Penone, der sich seit 1967, seit seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit der Symbiose zwischen Mensch und Natur insbesondere bei Bäumen auseinandersetzt, will mit dem Werk „Idee di pietra – 1532 kg di luce“ die wie Geäst in viele Richtungen mäandernden und ausstrahlenden Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen sichtbar machen wie das Licht des Titels, punktuell markiert und verstärkt durch die Steine.
Die Bronze als wertvolles Material widerlegt dabei ein Klischee: Die eingesetzten Werkstoffe müssen vor allem energetisch funktionieren (was die Legierung Bronze mit Kupfer, Blei und Silber schafft) und Spirituelles verkörpern können; nie ist das „Ärmlich-einfach“ der Bewegung als „armselig“ misszuverstehen. Vielmehr waren mehrere der Künstler von der franziskanischen Idee der „Altissima Povertà“ geprägt, der „allerhöchsten Armut“, die weniger in gnadenlosem Hunger und Asketismus bestand, sondern den richtigen „uso delle cose“ predigte, also den (ge)rechten Einsatz auch werthafter Dinge, nur eben nicht ihren bloßen Besitz. Insbesondere der soziohistorische Hintergrund der vor allem in der heruntergekommenen Hafenstadt Genua startenden Arte Povera mit starker Nachkriegsarmut, faschistischen Nachbeben sowie Masseneinwanderung aus dem Süden Italiens verlangte nach einem neuen, eigenen und vor allem zeitgemäßen Materialverständnis.
„Kounellis“ steht in flammenden Buchstaben auf dem Boden vor der Pariser Börse, die Leitung zu einer Propangasflasche lässt den Namen beständig lodern. Unweit davon schmelzen drei meterhohe Eisbarren langsam vor sich hin, berichtet der Tagesspiegel.
In der Ausstellung selbst wird der Besucher gleich in der Rotunde von einem wahren Feuerwerk an Schlüsselwerken der Arte Povera begrüßt: Gleich links hängt ein riesiger schwarzer Fleck an der Wand, der sich bei näherer Betrachtung als aus Teer bestehend entpuppt. Gilberto Zorio, der Schöpfer dieses Werks, das wie ein Menetekel über allem schwebt, gehört zu den radikalsten Künstlern der Bewegung. Seine Spezialität: die Kombination von archaischen Materialien wie eben Teer mit modernsten Werkstoffen, häufig aus der Chemie. In der Rotunde findet sich ein weiteres Frühwerk von Zorio: „Tenda (Zelt)“ von 1967. Es besteht aus einem blauen Nylonzelt, das über Aluminiumstangen gespannt ist. An den Enden der Stangen befinden sich Glühbirnen, die das Zelt von innen erleuchten. Zorio spielt hier mit dem Kontrast zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, zwischen dem Nomadischen und dem Sesshaften.
Gleich nebenan steht ein Werk, das ebenfalls zum Kanon der Arte Povera gehört: „Senza titolo (Ohne Titel)“ von 1969 von Jannis Kounellis. Es besteht aus zwölf Säcken, die mit Kaffeebohnen gefüllt sind und auf einer Fläche von drei mal vier Metern ausgebreitet sind. Der Geruch von Kaffee durchzieht den Raum und erinnert an ferne Länder und Kulturen. Kounellis, der 1936 in Griechenland geboren wurde und 1956 nach Rom emigrierte, setzte sich in seinen Werken immer wieder mit dem Thema der Migration und der Entwurzelung auseinander. Die Kaffeebohnen stehen dabei für die Warenströme, die die Weltwirtschaft antreiben, aber auch für die Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat verlassen.
Die zentralen Themen der Arte Povera, die sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung ziehen, sind die Natur, die Energie, der Körper und die Zeit. Die Künstler der Bewegung wollten die Kunst von ihrem traditionellen Sockel holen und sie wieder mit dem Leben verbinden. Sie suchten nach einer neuen Ästhetik, die nicht auf Schönheit, sondern auf Authentizität und Unmittelbarkeit beruhte. Und sie fanden sie in den einfachen, alltäglichen Materialien, die sie in ihren Werken verwendeten.
Die Arte Povera war aber nicht nur eine ästhetische Revolution, sondern auch eine politische. Die Künstler der Bewegung stellten die Konsumgesellschaft und ihre Werte in Frage. Sie kritisierten die Umweltzerstörung und die soziale Ungerechtigkeit. Und sie forderten ein neues Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen und die Zerbrechlichkeit des Lebens.
Die Ausstellung in der Pinault Collection ist eine einzigartige Gelegenheit, die Kunst der Arte Povera in ihrer ganzen Vielfalt und Radikalität zu erleben. Sie zeigt, dass die Bewegung auch heute noch aktuell ist und uns wichtige Impulse für die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit geben kann.
Quellen: