October 5, 2024
Beirut zwischen Hoffnung und Angst

Dschassem, der Hausmeister, sah selten so erleichtert aus. Er beäugt misstrauisch den Himmel, wo das Sirren einer israelischen Drohne zu hören ist. Er druckst etwas herum, dann sagt er strahlend: „Ich dachte, du wärst auch schon weg. Es sind nur noch zwei Leute hier.“ Sogar der Tourismusminister sei nicht mehr da, sagt Dschassem. Aber solange überhaupt noch jemand in dem Haus wohne, beruhige ihn das. Die Verunsicherung ist groß in Beirut, seit der Krieg zwischen Israel und der Hizbullah auch hier angekommen ist. Die Leute tasten sich in jeden Tag hinein, weil die Lage seit Wochen immer bedrohlicher wird und sie fürchten, dass es noch schlimmer kommt. Die israelische Luftwaffe fliegt heftige Luftangriffe auf die südlichen Vorstädte, in denen die Schiitenorganisation herrscht, wie die FAZ berichtet. Die Angriffe machen mehrstöckige Häuser dem Erdboden gleich, in denen oder unter denen die Schiitenorganisation Büros, Waffenlager oder Kommandozentralen verbirgt. Als das unterirdische Hizbullah-Hauptquartier bombardiert wurde und ein lang gezogenes, tiefes Donnern die Stadt aufschrecken ließ, bebten noch Kilometer von der Einschlagstelle entfernt die Scheiben.

Viele sind deshalb fortgegangen aus Beirut. Einige sind ins Bergland im Norden gefahren, wo ein leichter Nachtwind das Jaulen der Schakale durch die offenen Fenster weht statt das Grollen der Detonationen. An den Wochenenden zieht es auch zu normalen Zeiten viele Beiruter in ihre Wochenendhäuser. „Ich gehe in die Berge“, heißt es immer. Jetzt ist es die Ankündigung einer Flucht. Andere sind ausgeflogen, weil sie eines der raren Tickets ergattern können. Bis auf die libanesische Fluggesellschaft fliegt niemand mehr den Flughafen an, der nah am Kampfgebiet in Südbeirut liegt. Es gibt Fernsehbilder, die zeigen, wie eines der Flugzeuge landet, während Explosionen den Nachthimmel rot färben.

Die Ausgehstraßen sind wie ausgestorben

Dschassems Viertel ist ein sicheres Viertel. Es liegt im christlichen Osten von Beirut, der einer Insel gleicht. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, sollte es zum Ziel werden, weil die Hizbullah hier Führungspersonal oder Waffen versteckt hat. Denn hier mögen die Leute die Hizbullah nicht, und die christlichen Parteien und Führer wachen mit Argusaugen über ihre Viertel. Wer die Gegend nicht kennt, dem würde es tagsüber auf den ersten Blick kaum auffallen, dass viel weniger Menschen unterwegs sind oder in den Cafés sitzen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, verweht das Leben auf den Straßen vollends. Dann sind nur noch sporadisch Scheinwerferpaare von Autos zu sehen. Auch die beliebten Ausgehstraßen sind so gut wie ausgestorben, die meisten Neonlichter seit mehr als einer Woche erloschen. Nur das Drohnen-Sirren bleibt. Ein paar Barbesitzer öffnen trotz der Anspannung ihre Bars, wo die Gäste ein paar Stunden lang die bedrückende Realität ausblenden können. Manchmal ist die Stimmung merkwürdig ausgelassen und das Zusammengehörigkeitsgefühl groß. Als seien alle Kameraden.

Ähnlich ist es auch in anderen Gegenden, zum Beispiel im Westen von Beirut, in den Gegenden entlang der Küstenstraße. Auf ihr sieht man immer wieder Jogger und Spaziergänger, während wenige Kilometer weiter die Erde unter den Einschlägen erbebt. Man darf ihr nur nicht zu weit nach Süden folgen, in die Schiitenviertel, die Heimat der Hizbullah-Klientel. Wer in die Dahiyeh fährt, die südlichen Vorstädte Beiruts, fährt in ein Kriegsgebiet. Und so werden Routen, die noch vor zwei Wochen völlig sicher waren, zu einer gefährlichen Angelegenheit. Der Krieg kriecht vom Hizbullah-Kernland im Süden Beiruts in andere Gegenden. Zum Beispiel in die reichen Ränder der Dahiyeh, die man noch vor wenigen Wochen besuchen konnte. Ein Freund riss beim letzten Besuch schon Witze darüber, dass man jetzt besser darauf achten sollte, keinen hohen Hizbullah-Kader im Haus oder in der Nachbarschaft zu haben. Vor einigen Tagen erschütterte ein Drohnenangriff eine Parallelstraße. Auch das Zentrum Beiruts ist inzwischen betroffen. Zwei Luftangriffe hat es dort schon gegeben, wahrscheinlich auch Drohnenangriffe.

Wo die Gentrifizierung keine Chance hat

Der jüngste war nicht sehr weit vom Stadtzentrum entfernt, wo auch das Parlament und der Sitz des Ministerpräsidenten liegen. Dort, wo die Rakete einschlug, herrscht die schiitische Amal-Bewegung von Parlamentspräsident Nabih Berri, die mit der Hizbullah im Bunde steht. Unter ihrem Befehl stehen die berüchtigten Schlägertrupps, die losgelassen werden, um politische Gegner einzuschüchtern und Demonstrationen aufzumischen. Die Gentrifizierung, die in der Umgebung um sich griff, hatte hier kaum eine Chance, weil das Viertel an einer neuralgischen Verkehrsader liegt und fest in der Hand der getreuen, ärmlichen Klientel bleiben soll. Die Armee traut sich manchmal nicht in die Gegend. Alteingesessene Christen aus den Nachbarvierteln wagen schon gar nicht, einen Fuß hineinzusetzen. Im Bürgerkrieg war es Feindesland. Jetzt, in diesen Kriegstagen, haben solche Grenzen eine ganz neue Brisanz.

Die inneren Spannungen steigen auch, weil mindestens eine Million Menschen aus dem Kampfgebiet – dem Süden Libanons, der Bekaa-Ebene im Osten und Dahiyeh – geflohen sind. Viele von ihnen berichten, dass sie schon einmal woanders Zuflucht gefunden hatten, bis der Krieg sie wieder einholte. Sie sind in jeder Hinsicht schutzlos. In Libanon gibt es keine Schutzräume, keinen Luftalarm. Die Einschläge kommen aus dem Nichts. Und die korrupte Regierung hat den Staat und seine Infrastruktur so heruntergewirtschaftet, dass die Bürde der Vertreibung einfach an die Bevölkerung weitergereicht wird – eine Bevölkerung, die schon seit fünf Jahren unter einer ruinösen Wirtschaftskrise leidet. Noch immer kampieren daher Geflohene auf Bürgersteigen, in Parks, schlafen in Autos. Manche gehen tagsüber kurz in ihre Häuser im Süden zurück und verbringen die Nacht am Strand, weil dann heftiger bombardiert wird. In westlichen Stadtvierteln melden die Nachbarn schon, dass Verzweifelte in leer stehende Wohnungen einbrechen. Auch die Sorge, dass die Not irgendwann in Gewalt umschlagen kann, macht sich in Beirut breit. Vor allem die christlichen Viertel im Osten sähen schiitischen Zuzug nicht gerne.

Wenn sich im Haus von Dschassem, dem Hausmeister, die schwere Gittertür am Eingang öffnet, schaut er aus seinem Hausmeisterzimmer hervor. Erblickt er ein bekanntes Gesicht, grüßt er erleichtert.

Christoph Ehrhardt, Beirut

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Tel Aviv

Wenn es Raketenalarm gibt, packen die Israelis ihre Kinder ein und suchen Schutzräume auf. Seit dem 7. Oktober müssen sie das noch viel öfter tun als vorher. Die Israelis sind ein krisenerprobtes Volk. Das Land steht seit seiner Gründung in einer Art Dauerkrieg und muss sich gegen Angriffe aller Art zur Wehr setzen, seien sie politisch oder militärisch. Auch die Besetzung der palästinensischen Gebiete seit bald sechs Jahrzehnten führt immer wieder zu Gewalt. All das kennen die Menschen. Viele haben selbst in der Armee gedient oder haben Verwandte, die als Wehrdienstleistende oder Reservisten eingesetzt werden. Das Militärische hat einen hohen Stellenwert in Politik und Gesellschaft. Umfragen ergeben immer wieder, dass die Israelis keiner Institution mehr vertrauen als ihrer Armee. Das gilt selbst dann noch, wenn die Armee in der Kritik steht, etwa weil sie bei einem Einsatz zu viele Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommen hat. Die Armee ist der große Gleichmacher der israelischen Gesellschaft. Hier treffen die verschiedenen Volksgruppen aufeinander, die sonst oft wenig Berührungspunkte haben: säkulare und religiöse Juden, Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Äthiopien, Aschkenasim und Sephardim.

Die meisten Israelis sind es gewohnt, mit der Gefahr zu leben. Sie wissen, wie man sich im Ernstfall verhält. Wenn die Sirenen heulen, bleiben nur wenige Sekunden, um Schutz zu suchen. In vielen Städten gibt es öffentliche Schutzräume. Aber auch in den eigenen vier Wänden haben die Menschen Vorkehrungen getroffen. In vielen Wohnungen gibt es einen Sicherheitsraum, der mit Stahlbeton verstärkt ist und über eine gasdichte Tür verfügt. Hier können die Menschen ausharren, bis die Gefahr vorüber ist. Die israelische Armee verfügt über eines der modernsten Raketenabwehrsysteme der Welt, Iron Dome genannt. Es hat in den vergangenen Jahren Tausende Raketen abgefangen, die von der Hamas aus dem Gazastreifen und der Hisbollah aus dem Libanon auf Israel abgefeuert wurden. Doch Iron Dome kann nicht alle Raketen abfangen. Und so kommt es immer wieder vor, dass Raketen einschlagen und Menschen töten oder verletzen.

Der Krieg hat tiefe Spuren in der israelischen Gesellschaft hinterlassen. Viele Menschen leiden unter den psychischen Folgen. Sie haben Angstzustände, Schlafstörungen oder Depressionen. Die Angst vor einem neuen Krieg ist allgegenwärtig. Sie prägt den Alltag der Menschen. Und doch lassen sich die Israelis ihren Lebensmut nicht nehmen. Sie gehen weiter zur Arbeit, treffen sich mit Freunden, feiern Feste. Sie versuchen, ein möglichst normales Leben zu führen – trotz der ständigen Gefahr.

Christian Meier, Tel Aviv

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