19.10.2024
Der Abriss von Beduinendörfern in Israel

Wie Beduinen in Israel ihre Dörfer abreißen müssen

Der Tag, an dem das Dorf Al-Ghul verschwand

Viele Beduinen im Negev leben in Siedlungen, die der israelische Staat nicht anerkennt. Minister Itamar Ben-Gvir geht mit harter Hand gegen sie vor. Wir haben zwei Brüder begleitet, die ihr Dorf abreißen müssen.

Der letzte Tag des Dörfchens Al-Ghul begann wie die meisten Tage in der Negev-Wüste zu dieser Jahreszeit: mit sengender Hitze. Schon am Vormittag hat es 35 Grad. Dennoch ist es betriebsam zwischen den Geröllhügeln.

Klopfen und Hämmern sind zu hören, Männer mit Arbeitsgeräten sind zwischen den flachen Häusern unterwegs, Kinder mit Akkuschraubern laufen herum. Es sieht aus, als würde hier gerade eine kleine Siedlung gebaut – nur dass irgendetwas verkehrt ist.

Die Details stimmen nicht. In der Küche eines ansonsten leeren Hauses hängt ein rosafarbener Perlenvorhang, und Reste von Kinderspielzeug liegen auf dem Boden herum. „Mein Vater hat dieses Haus 1995 gebaut“, sagt Yussuf al-Ghul. Er selbst habe praktisch sein ganzes Leben hier verbracht, sagt der 31 Jahre alte Israeli. Diese Zeit endet jetzt. „Vor zwei Tagen haben wir angefangen, es abzureißen.“

Die israelische Regierung hat fast 50 Häuser in einer Beduinensiedlung zerstört. Die Häuser sollen illegal errichtet worden sein. Laut israelischen Menschenrechtlern sind nun 350 Beduinen obdachlos.

Die Beduinen in der Negev-Wüste sind eine in Stämmen organisierte, traditionelle islamisch-arabische Minderheit. Sie sind die Nachfahren nomadischer Hirtenstämme, die seit Jahrhunderten die Region bewohnen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Stämme teilweise sesshaft, verstärkt nach der Gründung Israels 1948 und auf Druck der israelischen Politik.

Viele Beduinen verließen im israelischen Unabhängigkeitskrieg das Gebiet in Richtung Jordanien oder Sinai-Halbinsel. Nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 entstanden in der Negev-Wüste sieben Beduinensiedlungen, darunter Rahat, die heute mit rund 80.000 Einwohnern größte arabische Stadt Israels.

Israelische Behörden hatten zunächst versucht, die Bewohner des nicht anerkannten Ortes Wadi al-Khalil in einen Teil des benachbarten Dorfes Umm al-Batin zwangsumzusiedeln. Die dortigen Bewohner hätten jedoch Neuzuzüglern mit Gewalt gedroht. Bitten der Ortsbewohner, in einem neuen Stadtteil von Tel Scheba angesiedelt zu werden, wurden abgelehnt.

Der Vorsitzende der Vereinten arabischen Liste, der arabisch-israelische Abgeordnete Mansour Abbas, kritisierte den Abriss. "Alle Versprechungen, die Probleme der Beduinen im Negev anzugehen, werden in Abrissen und der Vertreibung von Familien aus dem Land ohne eine gerechte Lösung umgesetzt", so Abbas.

Erfreut zeigte sich die rechte israelische Siedlerorganisation "Regavim". Die betroffenen Beduinen seien "Eindringlinge in staatliches Land" und blockierten seit Jahren den Ausbau der Autobahn 6, die eine wichtige Lebensader für Israel sei, schreibt die Organisation.

Die israelische Regierung hat neun Außenposten im Westjordanland legalisiert. Das Oberste Gericht in Israel hatte nach einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen der israelischen Regierung und den Bewohnern entschieden, dass das Dorf abgerissen werden darf. Ein festes Datum wurde nicht genannt. Die Bewohner legten erneut Einspruch ein, die Entscheidung wurde zunächst ausgesetzt.

Siedlerorganisationen forderten mit Petitionen die baldige Umsetzung der Entscheidung. Im September nun gab das Oberste Gericht endgültig grünes Licht für den Abriss. Kurz darauf hatten Soldaten ein Schreiben der israelischen Militärverwaltung COGAT an die Bewohner verteilt, in dem sie aufgefordert werden, ihre Häuser bis zum 1 Oktober selbst abzureißen.

Die Entscheidung des Obersten Gerichts basiere darauf, "dass das Grundstück ohne die erforderlichen Genehmigungen bebaut wurde", so die Stellungnahme. Israelische Behörden hatten zuvor auch auf die "unsichere Lage" nahe der Schnellstraße hingewiesen.

Internationale Kritik

Vereinte Nationen, Europäische Union und mehrere europäische Länder - darunter auch Deutschland - haben die Pläne der israelischen Regierung wiederholt kritisiert. Doch bislang scheint diese Kritik wenig zu bewirken.

Warten auf die Abrissbagger - Umm Mohammed weiß nicht, wo sie ein neues Zuhause aufbauen soll

Die neue Frist lief zudem kurz vor dem Besuch von Kanzlerin Angela Merkel und den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in Israel aus. Die Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass der Abriss in besetztem Gebiet und eine mögliche Zwangsumsiedlung gegen internationales humanitäres Recht verstießen.

Im israelischen Außenministerium sieht man dies anders. "Israel weist die Behauptung entschieden zurück, dass es sich hier um eine Zwangsumsiedlung von Leuten auf besetztem Gebiet handelt", sagte Emmanuel Nahshon, Sprecher des Ministeriums im Juli im Gespräch mit der DW. Die Tatsache, dass es sich um umstrittenes Gebiet handele, bedeute nicht, dass "Menschen sich dort in illegaler Weise niederlassen dürfen".

Palästinenser wiederum verweisen darauf, dass es für sie fast unmöglich sei, dort überhaupt eine Baugenehmigung zu bekommen. Das Beduinendorf liegt im"Cumulative Plan" genannten Gebiet, das von Israel für den Bau von Siedlungen und Infrastrukturprojekten vorgesehen ist.

Der Tag, an dem das Dorf Al-Ghul verschwand, markiert den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Beduinen im Negev. Ob die Bewohner jedoch tatsächlich in ein neues Zuhause umziehen werden, bleibt abzuwarten.

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