19.10.2024
Europäischer Gerichtshof kippt Fusionsverbot und stärkt Wettbewerbsfragen

Abermalige Brüsseler Schlappe vor Gericht

Am Dienstag, den 3. September 2024, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, dass das Verbot der Übernahme des Krebstest-Herstellers Grail durch das amerikanische Biotech-Unternehmen Illumina durch die Europäische Kommission nichtig ist. Dieses Urteil stellt einen weiteren Rückschlag für die EU-Kommission in ihrer Rolle als Aufsichtsbehörde für Fusionen dar und wirft Fragen über die zukünftige Ausgestaltung der Fusionskontrolle auf.

Die EU-Kommission hatte im September 2022 die Fusion zwischen Illumina und Grail untersagt und dem Unternehmen im Juli 2023 ein Bußgeld von 423 Millionen Euro auferlegt, da Illumina die Übernahme bereits vor einer offiziellen Genehmigung durch Brüssel vollzogen hatte. Mit dem aktuellen Urteil des EuGH wird die Entscheidung der Kommission nun aufgehoben, und es sind keine weiteren Rechtsmittel gegen das Urteil möglich. Die Kommission kündigte an, die Bußgeldverfügung zurückzunehmen.

Illumina hatte im September 2020 angekündigt, Grail für 8 Milliarden Dollar übernehmen zu wollen. Das Unternehmen war der Ansicht, dass die EU-Kommission aufgrund der geringen Marktanteile von Grail in Europa nicht zuständig sei und meldete den Deal daher nicht an. Die Richter des EuGH bestätigten diese Einschätzung und stellten fest, dass das Vorhaben keine europaweite Bedeutung habe, insbesondere da Grail weder in der EU noch anderswo Umsätze erwirtschaftete.

Obwohl das Urteil für die Übernahme selbst zu spät kommt – Illumina hat Grail bereits im Dezember 2023 verkauft – hat die Entscheidung weitreichende Auswirkungen auf die Zuständigkeit der EU-Kommission in der Fusionskontrolle. Die Richter begrenzten die Befugnisse der Kommission und stellten fest, dass die Nichtanmeldung der Übernahme in einzelnen EU-Staaten gerechtfertigt war, da die erforderlichen Umsatzschwellen nicht erreicht wurden.

Hintergrund der Übernahme

Die EU-Kommission hatte den Fall an sich gezogen, nachdem sechs nationale Kartellbehörden, die sich ihrer eigenen Nichtzuständigkeit bewusst waren, aufgrund von Wettbewerbsbedenken um eine Prüfung baten. Die Bedenken bezogen sich hauptsächlich auf die Einstufung der Übernahme als „Killer Acquisition“. Dieser Begriff beschreibt eine Situation, in der ein etabliertes Unternehmen einen vielversprechenden, aber kleineren Konkurrenten übernimmt, um potenzielle Wettbewerber auszuschalten. Die Richter entschieden jedoch, dass solche Bedenken nicht ausreichten, um eine Prüfung durch die EU-Behörde zu rechtfertigen.

Reaktionen auf das Urteil

Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager äußerte sich zu dem Urteil und betonte, dass es möglicherweise nicht das letzte Wort im Streit um die Zuständigkeit ihrer Behörde sei. Sie wies darauf hin, dass bestimmte Übernahmen, die nicht anmeldepflichtig sind, dennoch den Wettbewerb in Europa beeinträchtigen könnten. Vestager argumentierte, dass Unternehmen mit geringem Umsatz als Start-ups oder wichtige Innovatoren erhebliches Wettbewerbspotenzial besitzen können und dass „Killer Acquisitions“ darauf abzielen, dieses Potenzial zu neutralisieren.

Experten erwarten, dass die Kommission in Reaktion auf das Urteil mittelfristig versuchen wird, die geltenden Regeln zu ändern. Rupprecht Podszun, Kartelljurist an der Universität Düsseldorf und Mitglied der Monopolkommission, bezeichnete das Urteil als „heftige Schlappe“ für die Kommission. Er äußerte die Erwartung, dass die Rufe nach Reformen in der Fusionskontrolle lauter werden. Jens-Peter Schmidt, Büroleiter der Kanzlei Noerr in Brüssel, stimmte zu und betonte, dass die Entscheidung juristisch gut nachvollziehbar sei, aber die Kommission vor erhebliche wettbewerbspolitische Herausforderungen stelle.

Ausblick auf mögliche Reformen

Die Kommission steht nun vor der Herausforderung, strategische Übernahmen von kleinen, aber innovativen Unternehmen durch große Wettbewerber zu prüfen und gegebenenfalls zu verbieten. Schmidt erwartet, dass die Kommission „neue Wege“ finden wird, um solche Übernahmen weiterhin zu überprüfen. Zudem wird die Fusionskontrollverordnung (FKVO) zur Diskussion stehen, insbesondere die Bedingungen für eine Verweisung an die Kommission.

Eine Reform der Fusionskontrolle könnte auch aufgrund einer politischen Neuausrichtung notwendig werden. Diese Neuausrichtung könnte dazu führen, dass bestimmte Zusammenschlüsse als politisch erwünscht gelten und nicht der Wettbewerbskontrolle unterworfen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Idee, Rüstungsfusionen von der Fusionskontrolle auszunehmen, die von Mario Draghi, dem Kommissionsbeauftragten für Wettbewerbsfähigkeit, angeregt wurde. Podszun warnt jedoch, dass eine solche Reform die Fusionskontrolle schwächen könnte, was seiner Meinung nach nachteilig wäre. Er betont, dass die EU nicht nur europäische Champions benötige, sondern auch eine stärkere Konzentrationskontrolle.

Insgesamt zeigt das Urteil des EuGH, dass die EU-Kommission ihre Befugnisse in der Fusionskontrolle möglicherweise überschätzt hat und dass eine Überarbeitung der bestehenden Regelungen notwendig sein könnte, um den Herausforderungen des Wettbewerbs im digitalen Zeitalter gerecht zu werden.

Die Entwicklungen in diesem Bereich werden weiterhin genau beobachtet, da sie nicht nur die Wettbewerbslandschaft in Europa beeinflussen, sondern auch die strategischen Entscheidungen großer Unternehmen und deren Innovationsfähigkeit.

Quellen: F.A.Z.

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