19.10.2024
Kulturwissenschaft trauert um Jan Assmann – Ein Titan des kulturellen Gedächtnisses geht
Mit dem Tod von Jan Assmann verliert die Kulturwissenschaft eine ihrer prägendsten Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte. Der am 7. Juli 1938 in Langelsheim im Harz geborene Assmann hinterlässt ein beeindruckendes Werk, das die Grenzen der Ägyptologie weit überschreitet und sich in den Diskursen der Religionswissenschaft sowie der kulturellen Erinnerungsforschung verankert hat. Nach seinem Studium in München, Heidelberg, Göttingen und Paris trat Jan Assmann seine Professur für Ägyptologie an der Universität Heidelberg an, wo er von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 lehrte. In diesen Jahren forschte er intensiv zu religiösen und kulturellen Aspekten des alten Ägyptens. Seine Arbeiten zur Religionsgeschichte, zu Todesvorstellungen und zum Weltbild der alten Ägypter zeichneten sich durch eine interdisziplinäre Herangehensweise aus, die philologische Textanalysen mit kulturhistorischen und archäologischen Befunden verknüpfte. Weltweit Beachtung fand insbesondere das von ihm und seiner Ehefrau, der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, entwickelte Konzept des "kulturellen Gedächtnisses". Dieser Ansatz, der auf Maurice Halbwachs' Theorie des "kollektiven Gedächtnisses" aufbaut, erforscht, wie Gesellschaften über Zeiten hinweg Erinnerungen konstruieren und bewahren, und welche Rolle dabei Institutionen und Medien spielen. Die Arbeiten des Paares rund um das kulturelle Gedächtnis haben nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit Diskussionen angeregt und trugen wesentlich zum Verständnis der Mechanismen von Erinnerung und Vergessen bei. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Studien zur deutschen Erinnerungskultur nach dem Holocaust, die die Assmanns als verspätetes, aber notwendiges Ringen einer Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und Identität verstanden. Für ihre herausragenden Beiträge zur Kulturwissenschaft und ihr Engagement in gesellschaftlichen Debatten wurden Jan und Aleida Assmann 2018 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Jury hob hervor, dass Jan Assmanns Schriften zum Zusammenhang von Religion und Gewalt sowie zur Genese von Intoleranz und absolutem Wahrheitsanspruch unverzichtbar für das Verständnis der Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit der Religionen in der heutigen Weltgesellschaft seien. Jan Assmanns wissenschaftliche Neugier erstreckte sich auch auf andere Bereiche der Kultur. So beschäftigte er sich mit der musikalischen Rezeption Ägyptens, beispielsweise in Mozarts "Zauberflöte", und reflektierte in seinen Werken häufig das Verhältnis von Kunst und Religion. Seine Liebe zur Musik, die seinen Werdegang maßgeblich prägte, lässt sich auch in seiner Forschung erkennen. So sagte er einmal, wäre er nicht Ägyptologe geworden, hätte er sich der Musikwissenschaft verschrieben. Mit Jan Assmann verliert die akademische Welt einen unermüdlichen Forscher, dessen Arbeit auch zukünftige Generationen inspirieren wird. Seine interdisziplinäre Sichtweise, seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen, und sein Engagement für ein friedliches Miteinander der Kulturen bleiben als Vermächtnis bestehen. Jan Assmann hinterlässt seine Frau Aleida und fünf erwachsene Kinder. Er verstarb in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar im Alter von 85 Jahren in Konstanz nach langer Krankheit. Sein Tod löst nicht nur in der Fachwelt, sondern auch bei all denen, die sein Wirken verfolgten, tiefe Betroffenheit aus.
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