Der Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro, bekannt für Romane wie „Was vom Tage übrig blieb“ und „Alles, was wir geben mussten“, hinterfragt in seinen Werken immer wieder die menschliche Erinnerung, Identität und die Zuverlässigkeit unserer Emotionen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag reflektierte Ishiguro über seinen Werdegang und die Prägung seiner frühen Werke. Als junger Autor versetzte er sich häufig in deutlich ältere Ich-Erzähler, die rückblickend ihr Leben betrachten. „Inzwischen habe ich selbst das Alter dieser Figuren erreicht“, bemerkte er in der F.A.Z..
Ishiguros Debütroman „Damals in Nagasaki“ erschien Anfang der 1980er Jahre. Damals arbeitete er noch mit Obdachlosen, gab diesen Beruf aber nach dem Erfolg des Romans auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Wie die F.A.Z. berichtet, beschrieb er diesen Schritt als beängstigend, aber auch als Ausdruck des Optimismus seiner Generation. Das damalige Klima der Prosperität habe ihm das Gefühl gegeben, Risiken eingehen zu können – eine Entscheidung, die er im heutigen Klima möglicherweise anders treffen würde.
Die Auseinandersetzung mit der Verlässlichkeit von Gefühlen zieht sich durch Ishiguros gesamtes Werk. Seine Protagonisten ringen oft mit Erinnerungen, die trügerisch oder unvollständig sind, und ihre emotionalen Reaktionen darauf prägen ihre Entscheidungen und ihr Handeln. In „Was vom Tage übrig blieb“ beispielsweise verbringt der Butler Stevens sein Leben im Dienst eines Lords, dessen politische Ansichten sich im Nachhinein als fragwürdig erweisen. Stevens’ unterdrückte Gefühle und seine Loyalität verhindern lange Zeit eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Auch in „Alles, was wir geben mussten“ spielt die emotionale Steuerung eine zentrale Rolle. Die geklonten Protagonisten Kathy, Ruth und Tommy wachsen in einem scheinbar idyllischen Internat auf, erfahren aber nach und nach die Wahrheit über ihre Bestimmung als Organspender. Ihre Freundschaft, Liebe und Eifersucht werden vor dem Hintergrund ihrer begrenzten Lebenszeit und der ihnen aufgezwungenen Rolle beleuchtet. Die Frage, inwieweit ihre Gefühle "echt" oder durch ihre künstliche Existenz vorbestimmt sind, bleibt im Raum stehen.
Ishiguros Romane regen dazu an, die eigenen Emotionen zu hinterfragen und ihre Rolle in der Konstruktion unserer Realität zu erkennen. Sie zeigen, wie Erinnerungen, gesellschaftliche Normen und persönliche Prägungen unsere Wahrnehmung verzerren können. Die Botschaft, unseren Gefühlen nicht blind zu vertrauen, ist daher kein Plädoyer für rationale Kälte, sondern ein Appell zur kritischen Selbstreflexion.
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