October 5, 2024
Neuer Kurs für die Berliner Volksbühne: Herausforderung und Chancen der Interimsführung

Ist das nun der erhoffte Befreiungsschlag, auf den die Berliner gehofft haben? Wie von verschiedenen Medien berichtet wird, hat der bislang einigermaßen glücklose und momentan unter enormem Spardruck stehende Kultursenator Joe Chialo das Performanceduo Vegard Vinge und Ida Müller zu Interimsintendanten der Berliner Volksbühne erklärt. Nach dem plötzlichen Tod von René Pollesch, dem die meisten wohl insgeheim eine ähnlich lange Ära zugetraut hatten, wie sie sein Vorgänger Frank Castorf für sich in Anspruch nahm, stand die Berliner Kulturverwaltung vor der schwerwiegendsten theaterpolitischen Aufgabe des Augenblicks. Das berichtet die F.A.Z.

Dass sie sie mit der Berufung des gemäßigt progressiven deutsch-norwegischen Duos – der Norweger Vinge ist Regisseur, die Deutsche Ida Müller Bühnenbildnerin – gelöst hat, darf man bezweifeln. Denn in mancher Hinsicht wirkt die jetzt breit bejubelte Entscheidung in Wahrheit wie eine ungute Kompromisslösung, die Chialo nur etwas mehr Zeit verschaffen soll: Erstens haben Vinge und Müller nur Dreijahresverträge bekommen, werden also nicht viel Spielraum haben, um ihr eigenes Haus kennenzulernen und ernst zu nehmen. Zweitens stellt sich die Frage nach Chialos theaterpolitischer Absicht: Geht es ihm um eine Vergegenwärtigung beziehungsweise Verlängerung von Tradition? Dann stellt sich die Frage, was das deutsch-norwegische Duo, das sich im Jahr 2008 an der Berliner Universität der Künste kennengelernt hat und sich seither mit greller Übermalung und drastischer Exzentrik vor allem an Henrik Ibsen versucht hat, zur raumbestimmenden Identitätsfrage „Was ist Ost?“ zu sagen hat.

Warum nicht SIGNA?

Oder geht es dem CDU-Politiker Chialo um eine Reform des Intendantenmodells auch an der Berliner Volksbühne – weg vom prägenden Spitzenintendanten hin zur flachen Kollektivführung? Dann wäre aber die Entscheidung für ein anderes Kollektive mutiger und aufregender gewesen – etwa eine für die dänisch-österreichische Suspense-Bande SIGNA, die sich historisch-performativ mit Orten und deren gefährlichen Atmosphären auseinandersetzt. Ein großes, mehrtägiges Spielprojekt zur Erforschung des kontaminierten Volksbühnen-Geistes könnte man sich von SIGNA inszeniert gut vorstellen.

Das Performanceduo Vegard Vinge (links) und Ida Müller bedankt sich am 25. September 2008 in Oslo für den Kritikerpreis.picture alliance/NTB

Und nochmal zurück zum Ost-Gedanken: Es scheint, als würde Chialo überhaupt kein Interesse an der Frage zu haben, welche Bedeutung die Volksbühne für die gerade ja hochaktuelle „Ost“-Diskussion bekommen könnte. Stellen wir uns nur einmal vor, die Volksbühne würde zu einem spielerisch-intellektuellen, eben kulturellen Zentrum der Debatte über die auch ästhetische Signifikanz der „Ost“-Kategorie werden. Zu einem Ort der Untersuchung von ostdeutscher Textwirkung damals und heute. Oder auch weiter gefasst der aktuellen theatralischen Bedeutung Osteuropas generell. Gerade in Zeiten, in denen Wagenknechts Neoleninismus in breiten Teilen der Bevölkerung offenbar große Anziehungskraft entwickelt, wäre doch ein Theaterhaus, das dieser Sehnsucht künstlerisch begegnet, ihr auch Paroli bietet ein aufregendes Unterfangen.

Riskantere Möglichkeiten

Namen wie die des exilrussischen Regisseurs Kirill Serebrennikov fallen einem ein, der gerade in Wien ausgebuht wurde, dem man aber ein energetisches Interesse an der Vergegenwärtigung der Tschechowschen Idee eines Künstlertheaters nicht absprechen kann. Auch der gerade viel Furore machende polnische Jungregisseur Jakub Skrzywanek wäre eine abenteuerlichere, wenn auch riskantere Möglichkeit gewesen. Stattdessen aber bekommt das herrscherlose Theaterkönigreich „Volksbühne“ eine Übergangsregierung ohne Richtlinienkompetenz. Aus Chialos Umfeld heißt es, die endgültige Entscheidung, wer das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz langfristig übernehmen wird, werde frühestens im Sommer 2025 fallen. Das darf man aus guten Gründen bezweifeln!

Denn kurz vor seinem von allen Seiten erwarteten, wenn auch argumentativ nicht recht unterstützten Wechsels in die Bundespolitik, wird Chialo aus strategischen Gründen keine (so oder so kontroverse) Entscheidung fällen wollen. Es heißt, Friedrich Merz, der sich für Kultur ungefähr so viel interessiert wie fürs Tiefseetauchen, hätte Chialo den Posten des Kulturstaatsministers schon zugesichert. Das bedeutet wiederum für die Volksbühne: Es wird mit der endgültigen Entscheidung wohl noch länger dauern.

Quelle: F.A.Z.NET Artikelrechte erwerben Simon Strauß Redakteur im Feuilleton. Folgen Zur Startseite

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