Das Jahr 1930 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Weimarer Republik. Die sogenannte Koalitionskrise, die im März dieses Jahres zum Rücktritt des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller führte, gilt als ein entscheidender Schritt auf dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur. Wie Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) am 7. November 2024 anlässlich des neuen Buches von Jens Bisky schreibt, läuft die Geschichte dieses Tages auf ein "Endspiel" hinaus – den Zwist innerhalb der Großen Koalition.
Die Regierungskoalition, bestehend aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei (DVP), Bayerischer Volkspartei (BVP) und Deutscher Demokratischer Partei (DDP), war von Beginn an von tiefen ideologischen Gräben geprägt. Die SPD, stärkste Kraft im Reichstag nach der Wahl von 1928, sah sich in der Verantwortung, die junge Republik zu stabilisieren und sozialpolitische Reformen voranzutreiben. Die DVP hingegen, als Interessenvertreterin der Großindustrie, verfolgte eine wirtschaftsliberale Agenda und stand den sozialpolitischen Ambitionen der SPD skeptisch gegenüber. Das Zentrum, als katholische Partei, versuchte zwischen den beiden Polen zu vermitteln, war aber selbst von internen Spannungen geprägt, insbesondere durch das Verhältnis zur bayerischen Schwesterpartei BVP.
Die Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1929 begann, verschärfte die bestehenden Konflikte innerhalb der Koalition dramatisch. Die steigende Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Kosten für die Arbeitslosenversicherung führten zu heftigen Auseinandersetzungen über die Finanzpolitik. Die DVP forderte Sparmaßnahmen und lehnte eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ab, während die SPD auf die Notwendigkeit sozialer Sicherung bestand. Dieser Konflikt entlud sich im März 1930 im Streit um eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent. Wie Vorwärts berichtet, lehnte die DVP diese Erhöhung ab, in der Hoffnung, die ungeliebte Versicherung ganz zu Fall zu bringen.
Der Rücktritt Müllers am 27. März 1930 markierte das Ende der Großen Koalition und den Beginn der Präsidialkabinette unter Heinrich Brüning. Brüning regierte mittels Notverordnungen auf Grundlage des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung, was die parlamentarische Demokratie weiter schwächte. Der Historiker Jens Bisky, dessen Buch von Patrick Bahners in der F.A.S. besprochen wird, bezeichnet die Ereignisse um die Koalitionskrise als "Endspiel" der Weimarer Republik. Die politische Instabilität, die durch den Rücktritt Müllers entstand, ebnete den Weg für den Aufstieg der Nationalsozialisten, die bei den Reichstagswahlen im September 1930 ihren Stimmenanteil dramatisch steigern konnten.
Die Koalitionskrise von 1930 war nicht nur ein Machtkampf zwischen verschiedenen politischen Parteien, sondern auch ein Ausdruck der tieferliegenden gesellschaftlichen Spaltungen der Weimarer Republik. Die Unfähigkeit der Koalitionspartner, einen Kompromiss in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu finden, führte letztendlich zur Schwächung der Demokratie und ermöglichte den Aufstieg extremistischer Kräfte. Der Streit um die Arbeitslosenversicherung war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Krise offenbarte die Fragilität der Weimarer Demokratie und ihren Mangel an innerer Stabilität, was letztendlich zu ihrem Untergang führte.
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