Der französische Soziologe Éric Fassin argumentiert in seinem Werk "Elend des Antiintellektualismus", dass der Vorwurf des Antisemitismus, besonders von linker Seite, oft instrumentalisiert wird, um kritische Stimmen und progressive Bewegungen zu diskreditieren. Laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 08.12.2024 sieht Fassin darin eine bewusste Strategie zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen und zur Kontrolle des öffentlichen Diskurses.
Fassin beobachtet diese Instrumentalisierung insbesondere bei Vertretern eines illiberalen Autoritarismus, die den Antisemitismus-Vorwurf als Waffe im Kulturkampf einsetzen. Exemplarisch nennt er die Reaktion der französischen Regierung unter Emmanuel Macron auf einen Vorfall an der Universität Sciences Po im März 2024. Einer jüdischen Studentin wurde dort angeblich der Zugang zu einem Hörsaal verwehrt, was zu Antisemitismus-Vorwürfen führte. Fassin betont jedoch, dass dieser Vorfall nie eindeutig belegt werden konnte. Dennoch nutzte Macron die Gelegenheit, den Hochschulen "Separatismus" vorzuwerfen und eine verstärkte staatliche Kontrolle anzukündigen. Laut Fassin diente der Antisemitismus-Vorwurf hier als Vorwand, um die Universitäten, die er als Zentren progressiven Denkens betrachtet, einzuschüchtern und zu disziplinieren.
Fassin zieht Parallelen zu den USA, wo Universitätspräsidentinnen aufgrund von Antisemitismus-Vorwürfen im Kontext propalästinensischer Proteste zurücktreten mussten. Er warnt vor einer Art neuem McCarthyismus, der unter dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung die akademische Freiheit bedroht.
Zentral in Fassins Argumentation ist die Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Er unterstreicht, dass Kritik an israelischer Politik und am Zionismus legitim ist und nicht mit Judenhass gleichzusetzen ist. Die Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs verwische diese wichtige Unterscheidung und führe dazu, dass auch linke, pro-palästinensische Juden als Antisemiten diffamiert würden. Laut Fassin sind es oft gerade die lautesten selbsternannten „Judenfreunde“ am rechten Rand, die antisemitische Stereotype verbreiten und den Antisemitismus-Vorwurf für ihre politischen Ziele missbrauchen.
Fassin stützt seine Argumentation unter anderem auf einen Bericht der französischen Nationalen beratenden Kommission für Menschenrechte, der belegt, dass antisemitische Übergriffe weiterhin mehrheitlich von Rechtsextremen verübt werden. Gleichzeitig stellt der Bericht fest, dass es keinen Zusammenhang zwischen einer kritischen Haltung gegenüber Israel und Antisemitismus gibt.
In seinem 2019 im August Verlag erschienenen Buch "Revolte oder Ressentiment: Über den Populismus" analysiert Fassin die Rolle politischer Emotionen und argumentiert, dass Ressentiments nicht in Revolte münden können. Er plädiert für eine Repolitisierung der Gesellschaft entlang der Links-Rechts-Achse und sieht in der Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs eine Gefahr für die Demokratie.
Auch Deutschland betrachtet Fassin, wobei er hier eine andere Situation als in Frankreich sieht. Die FAZ vom 08.12.2024 zitiert Fassin, der die spezifischen deutschen Herausforderungen im Umgang mit Antisemitismus beleuchtet. Details dazu werden in der FAZ jedoch nicht genannt.