Gaston Leroux' Meisterwerk "Das Phantom der Oper" erlebt eine Neuauflage. Die Geschichte um eine junge Sängerin, ihren Liebhaber und ein besitzergreifendes Musikgenie fesselt seit Generationen. Wie Tilman Spreckelsen in der F.A.Z. berichtet, liegt der Roman nun in einer neuen Übersetzung von Rainer Moritz vor.
Lampenfieber ist für Sängerinnen und Sänger nichts Ungewöhnliches. Doch was Carlotta, die Diva der Pariser Oper, erlebt, ist beispiellos: Statt ihrer Stimme entweichen ihr beim Singen Kröten aus dem Mund. Wie die F.A.Z. berichtet, ist dieser Vorfall kein Zufall. Carlotta hat sich dem Willen des geheimen Herrschers der Oper widersetzt: dem Phantom.
Das Phantom hat sich im Operngebäude eingenistet und stellt bizarre Forderungen, wie die nach einer permanent für ihn reservierten Loge und einer jährlichen horrenden Geldsumme. Werden seine Wünsche nicht erfüllt, stürzt er die Oper ins Chaos. So ermordet er eine unschuldige Angestellte durch einen herabstürzenden Kronleuchter und verflucht Carlotta mit dem Krötenunglück. Die unerklärliche Natur dieser Ereignisse verstärkt den Schrecken.
Die neuen Operndirektoren müssen das Terrorregime des Phantoms anerkennen. Die Situation eskaliert, als er sich in künstlerische Entscheidungen einmischt und Christine Daaé, sein Mündel, als Ersatz für Carlotta fordert. Christine gegenüber gibt er sich als Gesangslehrer aus, der ihr ungeahnte stimmliche Fähigkeiten entlockt. "Das Konservatorium hatte sie als eine leblose singende Maschine durchlebt. Und plötzlich war sie erwacht, wie durch den Hauch eines göttlichen Eingreifens", beschreibt Leroux die Verwandlung. Im Gegenzug verlangt das Phantom, das seine Identität verbirgt, von Christine absolute Treue und untersagt ihr die Heirat. Er gibt sich als "Engel der Musik" aus, dessen Besuch ihr verstorbener Vater ihr einst prophezeit hatte. Christine, verliebt in ihren Jugendfreund Raoul, gerät in einen tiefen Konflikt.
Leroux' Roman, ursprünglich 1910 veröffentlicht, ist melodramatisch und entspricht damit dem Wesen der Oper. Das Operngebäude selbst wird zum Akteur, dessen Gänge, Zimmer, Treppen und der unterirdische See die Gefühlswelt der Protagonisten spiegeln. Das musikbesessene Phantom kennt jeden Winkel und kontrolliert die anderen durch sein Wissen. Je tiefer Christine und Raoul in das Operngebäude vordringen, desto prekärer wird ihre Lage. Einen Hoffnungsschimmer bietet die Szene, in der sie auf das Dach der Oper gelangen. Wie Tilman Spreckelsen in der F.A.Z. anmerkt, erschien der Roman, das Hauptwerk des journalistischen Vielschreibers Leroux, ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte in der Tageszeitung "Le Gaulois".
Die cliffhangerreiche Struktur des Romans, die das Publikum bei der Stange halten sollte, spiegelt sich auch in der Sprache wider. Die Neuübersetzung von Rainer Moritz fängt diese Atemlosigkeit gekonnt ein. Der Leser erfährt die Geschichte durch die Berichte von Augenzeugen, ergänzt durch Recherchen des Herausgebers. Dieser Erzähler tritt dem Phantom als zweite geheimnisvolle Figur gegenüber. Während Erik, der eigentliche Name des Phantoms, seine Umgebung durch Manipulation kontrolliert, enthüllt der Erzähler die Wahrheit, konstruiert aber gleichzeitig die Geschichte nach eigenem Ermessen.
Leroux konzentriert sich auf die Wirkung von Orten, insbesondere die Opéra Garnier und die Bretagne, wo Christine und Raoul ihre Kindheit verbrachten. Die dort verwurzelte Offenheit für Geschichten zwischen Leben und Tod prägt beide. Hätte Christine sonst an den "Engel der Musik" geglaubt? Hätte sie nicht den gefallenen Engel, Luzifer, erkennen müssen? Raoul, verliebt, aber auch aufbrausend und einfältig, ist ihr keine Hilfe. Christine steht vor der schwierigen Wahl zwischen ihm und dem hässlichen Musikgenie. Ihre Geschichte fesselt den Leser und verändert den Blick auf verwinkelte Gebäude wie die Pariser Oper.
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