27.10.2024
Davos und der Zauber des Zauberbergs

Im Tal ist es Sommer, 24 Grad, Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen, die Eisdielen haben geöffnet. Aber oben, im Hochtal von Davos, auf 1500 Metern, hängt der Winter noch fest wie ein lästiger Verwandtschaftsbesuch, den man nicht mehr loswird: Minusgrade, ein eisiger Wind, auf den Dächern der Châlets türmt sich der Schnee anderthalb Meter hoch, und noch immer schneit es zart aus einem grauschlierigen Himmel. Auf der Schatzalp, noch einmal 300 Meter über Davos, sieht man abends die Lichter der Pistenraupen über die Hänge wandern, morgens wird man von den dumpfen Detonationen der Lawinensprengungen geweckt, und in den Nachrichten laufen besorgniserregende Berichte über Schneeunfälle in der Schweiz. Im April. So ist das im Gebirge!

Wer heute mit dem Zug von Zürich nach Davos fährt – so wie Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas Manns „Zauberberg“, im Sommer 1907 –, der sieht die Landschaft an sich vorbeiziehen, die der Schriftsteller auf seiner Reise in die Schweizer Berge gesehen haben muss: grüne Almen, auf denen die ersten Kühe grasen, schroffe Felsen, über die Wasserfälle stürzen, dunkle Wälder, über denen sich die Gipfel auftürmen, und dazwischen immer wieder die schmalen, türkisblauen Seen, die im Licht der Sonne glitzern. Eine Landschaft, die gleichzeitig bedrohlich und faszinierend ist, die den Menschen klein und unbedeutend erscheinen lässt, aber auch eine Ahnung von der Ewigkeit und der Unendlichkeit der Natur vermittelt.

Es ist diese Landschaft, die Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ beschreibt, der im November hundert Jahre alt wird. Ein Roman, der von Krankheit und Tod handelt, aber auch von der Liebe, der Philosophie und der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ein Roman, der in einem Sanatorium in Davos spielt, in dem sich die Menschen aus ganz Europa trafen, um ihre Tuberkulose auszukurieren. Eine Krankheit, die damals noch unheilbar war und die die Menschen zwang, sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen.

Die Zeit steht still

Das „Berghof“, das Sanatorium in Thomas Manns Roman, ist eine eigene Welt, abgeschlossen von der Außenwelt, in der die Zeit stillzustehen scheint. Die Patienten leben in einer Art Schwebezustand zwischen Leben und Tod, sie verbringen ihre Tage mit Liegekuren, Spaziergängen und Gesprächen. Sie diskutieren über Politik, Philosophie und Kunst, sie verlieben sich, sie streiten sich, sie sterben. Das „Berghof“ ist ein Mikrokosmos, in dem sich die großen Fragen der Menschheit widerspiegeln.

Zwei Hotels in Davos erheben heute Anspruch darauf, Thomas Mann zu seinem Roman inspiriert zu haben: das Waldhotel und das Berghotel Schatzalp. Im Waldhotel, das damals noch Waldsanatorium hieß, ließ sich Katia Mann, die Frau des Schriftstellers, 1912 wegen eines Lungenleidens behandeln. Thomas Mann besuchte sie dort und lernte die Atmosphäre eines Sanatoriums aus nächster Nähe kennen. „Man wollte sich von dem Tuberkulose-Image lösen, also überdeckte man fast alle historischen Spuren“, sagt die heutige Direktorin Marietta Zürcher. Ein zeitgenössisches Sanatoriumszimmer aber wurde wieder eingerichtet, eine Art Mini-Museum mit medizinischem Gerät und „Blauem Heinrich“, ein Taschenspucknapf aus gefärbtem Glas.

Das Berghotel Schatzalp wiederum atmet noch heute die Atmosphäre eines Sanatoriums. Wer mit der 1899 eigens für das Sanatorium gebauten Schatzalp-Bahn in die Höhe fährt, sieht bald die blätternde Jugendstilfassade des heutigen Hotels. Als Hotelgast isst man mit Besteck, das die Patienten schon vor hundert Jahren benutzten. Die Messinglampen, die Kerzenständer, der Terrazzoboden, vieles im Speisesaal sei original erhalten, sagt Direktor Paulo Bernardo. Dort, wo geröntgt wurde – damals, auch von Mann beschrieben, eine neue Medizintechnik – befindet sich heute die „X-Ray Bar“ mit beleuchtbaren Wänden, an denen die Mediziner einst die Bilder anschauten.

„Diese Ruhe, die spüren sie doch auch?“, fragt Ida Lohner, ehemalige Gemeindemitarbeiterin in Davos. Es ist wahr: Die Atmosphäre auf knapp 1.900 Metern ist entrückt – vielleicht besonders zu fühlen, wenn man den Roman gelesen hat und von „Denen da unten“ weiß. 

Die Magie des Schnees

Eines der wichtigsten Motive in Thomas Manns „Zauberberg“ ist der Schnee. Der Schnee steht für die Kälte, die Krankheit und den Tod, aber auch für die Reinheit, die Stille und die Ewigkeit. Im Schnee verschwimmen die Konturen, die Welt wird unwirklich und traumhaft. Der Schnee ist ein Symbol für den Schwebezustand, in dem sich die Patienten des „Berghofs“ befinden.

Im Roman springt Hans Castorp dem Kältetod von der Schippe, als er in einen Schneesturm gerät, in einer Welt, die „den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr“ empfing. Er verirrt sich, fährt auf seinen Ski im Kreis, führt im Wahn bei minus 20 Grad Selbstgespräche.

Thomas Mann beschreibt den Schnee mit einer Eindringlichkeit, die den Leser nicht mehr loslässt. Er beschreibt die Schneeflocken, die wie „weiße Falter“ vom Himmel fallen, er beschreibt die schneebedeckten Berge, die wie „gefrorene Wellen“ in den Himmel ragen, er beschreibt die Stille des Schnees, die „so tief und vollkommen“ ist, „dass man sie hören“ kann.

Thomas Mann hat den Schnee geliebt. Er liebte es, im Schnee spazieren zu gehen, er liebte es, den Schnee auf sich fallen zu lassen, er liebte es, die Welt durch den Schnee zu betrachten. Der Schnee war für ihn mehr als nur ein Wetterphänomen, er war ein Symbol für die Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens.

Auf den Spuren Hans Castorps

Wer heute auf den Spuren Hans Castorps durch Davos wandern will, der kann dies auf verschiedenen Wegen tun. Eine Wanderung mit Mann-Bezug, wahlweise mit Schneeschuhen im Winter, ist auch die entlang des Schatzalpweges, der auf 2,4 Kilometern die beiden Hotels verbindet. „Der Autor ist ihn zur eigenen Ertüchtigung gelaufen“, sagt Historiker Klaus Bergamin. „Heute heißt er Thomas-Mann-Weg.“

Thomas Mann benennt Landschaften oft konkret. Gemeinsam mit Nebenbuhler und Lebemann Mynheer Peeperkorn und den Gesinnungs-Kontrahenten Settembrini und Naphta wandert Castorp im Flüelatal zu einem Wasserfall. Im Winter werden im Tal Loipen gezogen. Über 10,6 Kilometer führt die Rundroute ab Davos entlang des Flüelabaches, über Hügel, vorbei an Chalets mit dicken Schneekissen auf dem Dach. Der Bach gluckert. Den Wasserfall findet man nicht immer, aber es gibt ihn laut Google Maps.

Davos hat sich in den vergangenen hundert Jahren stark verändert. Aus dem beschaulichen Kurort ist eine moderne Stadt geworden, in der sich jedes Jahr die Mächtigen und Reichen der Welt zum Weltwirtschaftsforum treffen. Doch der Zauber des „Zauberbergs“ ist geblieben. Noch immer zieht es Menschen aus aller Welt nach Davos, um die Landschaft zu genießen, die Thomas Mann in seinem Roman so eindrucksvoll beschrieben hat. Und noch immer suchen sie in den Schweizer Bergen nach dem Sinn des Lebens – so wie Hans Castorp vor hundert Jahren.

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