19.10.2024
Debatte um Jerzy Ficowski und seine Rolle in der Literatur der Roma
Streit in Polen um die Leistungen des Schriftstellers Jerzy Ficowski

Streit in Polen um die Leistungen des Schriftstellers Jerzy Ficowski

Mit dem bevorstehenden 100. Geburtstag von Jerzy Ficowski am 4. September 2024 entbrennt in Polen eine Debatte über die Verdienste und Methoden des Schriftstellers, der für seine Beiträge zur Roma-Literatur bekannt ist. Ficowski, der am 4. Oktober 1924 in Warschau geboren wurde und dort am 9. Mai 2006 verstarb, war nicht nur ein Dichter und Übersetzer, sondern auch ein bedeutender Bürgerrechtler während der kommunistischen Ära in Polen. Seine literarische Karriere begann 1948, und er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, die sowohl in Polen als auch international Anerkennung fanden.

Ficowski war ein wichtiger Mittler zwischen verschiedenen Kulturen und ein empathischer Forscher des Schicksals der polnischen Juden und Roma. Seine besondere Beziehung zu den Roma begann während des Zweiten Weltkriegs, als er in der polnischen Heimatarmee kämpfte und später in deutsche Gefangenschaft geriet. Nach dem Krieg schloss er sich einem Roma-Treck an, wo er die Romni Bronisława Wajs, besser bekannt als „Papusza“, traf. Ficowski ermutigte sie, ihre Lieder niederzuschreiben, und übersetzte ihre Gedichte ins Polnische.

Die Debatte um Ficowski wurde durch die Veröffentlichung eines Buches von Emilia Kledzik, einer Wissenschaftlerin der Universität Posen, angestoßen. In ihrem Werk kritisiert sie Ficowski und wirft ihm vor, in einer paternalistischen Haltung Papuszas Gedichte so stark verändert zu haben, dass sie als „Fälschungen“ bezeichnet werden müssten. Kledzik argumentiert, dass Ficowski in seinen Übersetzungen und Nachdichtungen nicht nur den Inhalt, sondern auch den Geist der Originaltexte verfälscht habe. Dies hat zu einer intensiven Diskussion über die Ethik des Übersetzens und die Verantwortung von Schriftstellern gegenüber den Kulturen, die sie darstellen, geführt.

Die Vorwürfe von Kledzik beziehen sich unter anderem auf das Gedicht „Wald, du mein Vater / Schwarzer Vater“, das sie als stark bearbeitet ansieht. Sie behauptet, dass Ficowski in diesem Fall einen langen Brief von Papusza gekürzt und umformuliert habe, wodurch die ursprüngliche Bedeutung verloren gehe. Zudem wird ihm vorgeworfen, Fotos aus einem Buch des Nationalsozialisten Martin Block verwendet zu haben, was die Debatte um die vermeintliche Fortführung von NS-Ethnographie neu entfacht hat.

Diese Anschuldigungen haben eine Welle der Verteidigung für Ficowski ausgelöst. Unterstützer des Schriftstellers, darunter der Schriftsteller Jakub Ekier, argumentieren, dass Ficowski in seinen Vorworten stets transparent über seine Übersetzungsmethoden war. Er habe klar gemacht, dass er bei „Längen und Redundanzen“ eingegriffen habe, um die Gedichte für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Ekier betont, dass die Unterstellung einer bösen Absicht nicht nur falsch, sondern auch schädlich für das Erbe Ficowskis sei.

Die Diskussion über Ficowski wirft grundlegende Fragen über die Rolle von Übersetzern und Schriftstellern auf, insbesondere wenn es um die Darstellung marginalisierter Kulturen geht. Während einige argumentieren, dass Ficowski als Brücke zwischen der polnischen und der Roma-Kultur fungierte, sehen andere in seinen Methoden eine Form der kulturellen Aneignung und Verzerrung. Diese Spannungen sind nicht neu, sondern spiegeln breitere gesellschaftliche Debatten über Identität, Repräsentation und die Verantwortung von Künstlern wider.

In der polnischen Literaturgeschichte nimmt Ficowski eine einzigartige Stellung ein. Er gilt als einer der ersten, der die Roma-Kultur in die polnische Literatur eingeführt hat. Seine Gedichte und Übersetzungen haben dazu beigetragen, das Bewusstsein für die Roma und ihre Traditionen zu schärfen. Dennoch bleibt die Frage, inwieweit seine Arbeiten die authentische Stimme der Roma widerspiegeln oder ob sie durch seine eigene Perspektive gefiltert wurden.

Die Debatte um Ficowski wird voraussichtlich auch in den kommenden Wochen und Monaten anhalten, insbesondere im Hinblick auf die Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag. Während einige die Gelegenheit nutzen werden, um seine Beiträge zur Literatur und Kultur zu würdigen, werden andere die Gelegenheit nutzen, um die kritischen Stimmen zu verstärken, die seine Methoden und deren Auswirkungen auf die Roma-Kultur in Frage stellen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Streit um Jerzy Ficowski und seine Leistungen nicht nur eine Auseinandersetzung über einen einzelnen Schriftsteller ist, sondern auch ein Spiegelbild der komplexen Beziehungen zwischen Kulturen, der Verantwortung von Künstlern und der Art und Weise, wie Geschichte erzählt wird. Die Diskussion wird weiterhin von Bedeutung sein, während Polen und die Welt sich mit den Herausforderungen der kulturellen Identität und Repräsentation auseinandersetzen.

Die Auseinandersetzung um Ficowski ist ein Beispiel für die anhaltenden Spannungen in der polnischen Gesellschaft, die durch die Geschichte, die kulturelle Vielfalt und die Herausforderungen der Gegenwart geprägt sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Debatte entwickeln wird und welche Auswirkungen sie auf die Wahrnehmung von Ficowski und der Roma-Kultur in der polnischen Literatur haben wird.

Quellen: - F.A.Z. - Wikipedia - Perlentaucher

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