Die deutsche Industrie befindet sich inmitten einer tiefgreifenden Transformation und steht vor erheblichen Herausforderungen. Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) meldet, planen etablierte Unternehmen wie Thyssenkrupp, Ford und Bosch umfangreiche Stellenstreichungen (Quelle: ZEIT ONLINE). Die aktuelle Konjunkturschwäche ist dabei nicht der einzige Faktor. Vielmehr deutet die Entwicklung auf einen grundlegenden Strukturwandel hin. Experten sind sich einig: Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Innovative Konzepte sind gefragt, um die deutsche Industrie fit für die Zukunft zu machen.
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beobachtet einen alarmierenden Trend: Jeden Monat gehen in Deutschland etwa 10.000 Arbeitsplätze im Industriesektor verloren. Das Produktionsniveau liegt 15 Prozent unter dem Wert vor der Corona-Pandemie. Weber betont jedoch, dass der Wandel an sich nicht das Problem darstellt. Die deutsche Industrie verfüge über ein hohes Potenzial, besonders in zukunftsorientierten Bereichen wie erneuerbaren Energien, Wasserstofftechnologien und der Entwicklung von innovativen Ersatzprodukten für Güter, die bisher aus Erdölbestandteilen hergestellt werden.
Die Herausforderung besteht laut Weber darin, dass diese neuen Industriebereiche nicht schnell genug wachsen, um die Arbeitsplatzverluste in den traditionellen Industriezweigen zu kompensieren. Die Beschäftigungsbilanz in der Industrie ist negativ. Dringend benötigte Maßnahmen müssten das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in den neuen Sektoren fördern. Der derzeitige „defensive Kampf“ der Industrie sei nicht zu gewinnen, so Weber.
Weber sieht die Notwendigkeit, die betroffenen Arbeitnehmer für den Wandel zu qualifizieren. Anstatt aufwändiger Umschulungen befürwortet er Programme zur Weiterentwicklung der bestehenden Fähigkeiten. Viele dieser Kompetenzen könnten in den neuen Industriezweigen Anwendung finden. Zusätzlich fordert er einen „Transformationswettbewerb“, mit dem der Staat die Gründung und das Wachstum von Start-ups stärker unterstützt und Innovationen vorantreibt. Eine Deindustrialisierung Deutschlands sei nicht zwangsläufig, betont Weber. Das vorhandene Potenzial müsse jedoch aktiviert werden.
Auch Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) warnt vor einer Deindustrialisierung Deutschlands nach US-amerikanischem Vorbild. Er sieht den Staat in der Verantwortung, durch Investitionen in Infrastrukturprojekte wie Straßen, Brücken und Energienetze die Konjunktur zu beleben. Dadurch würden nicht nur neue Aufträge und Arbeitsplätze im Baugewerbe entstehen, sondern auch Fachkräfte aus anderen Industriebranchen zurück in den Bausektor gelockt. Dullien argumentiert, dass solche Investitionen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken würden.
Paula Risius vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht die Schwierigkeit darin, die freigesetzten Arbeitskräfte in anderen Wirtschaftszweigen zu integrieren. Die Qualifikationen der Arbeitnehmer müssten mit dem regionalen Bedarf übereinstimmen. Sowohl Unternehmen als auch die Branchenwechsler selbst müssten in diesen Prozess investieren. Quereinsteiger verfügten nicht immer über die erforderlichen Kompetenzen und müssten gegebenenfalls Lohneinbußen hinnehmen.
Weber vom IAB weist darauf hin, dass viele Arbeitnehmer den Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber aus finanziellen Gründen scheuen. Die tarifgebundenen Arbeitsplätze in der traditionellen Industrie seien häufig besser bezahlt als Stellen in Start-ups oder jungen Unternehmen der Zukunftsbranchen. Er schlägt eine „Entgeltsicherung“ vor, bei der der bisherige Arbeitgeber gemeinsam mit dem Staat vorübergehend einen Teil des Gehalts beim neuen Arbeitgeber bezuschusst. Dies würde hohe Abfindungen vermeiden und das Know-how der Beschäftigten erhalten.
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