19.10.2024
Görlitz als bedeutende Stadt des Expressionismus

Görlitz der Kunstszene: Wohin mit Worpswede?

Ein Ort, der so bekannt ist, als wäre hier eine entscheidende Schlacht geschlagen worden: Und doch stellt sich heute die dringende Frage, was die ehemalige Künstlerkolonie Worpswede für eine Zukunft hat.

Offenes Atelierwochenende in Worpswede. Vierzig Künstler öffnen ihre Arbeitsräume. Durch den Ort rollen die Reisebusse, den Gehweg säumen Seniorenresidenzen und Geschäfte für Hörgeräte. Wo ist nur Rilke?

Auf dem Schwarzen Brett wird ein Konzert mit Paul Potts angekündigt. Wer war das noch mal? Ah ja: dieser britische Handyverkäufer, der 2007 bei einer Castingshow mit Puccinis „Nessun dorma“ auftrat und damit binnen Sekunden berühmt wurde – nicht seiner Stimme, sondern eines Gesichts wegen, auf dem sich die Härte des Lebens zu spiegeln schien.

In der inoffiziellen Worpsweder Hymne, dem von Brahms vertonten Allmers-Gedicht „Ich liege still im hohen grünen Gras“, heißt es an einer Stelle: „Mir ist, als ob ich längst gestorben bin, und ziehe selig mit durch ew’ge Räume“ – die Zeile könnte man sich auch gut von Paul Potts vorgetragen vorstellen.

Besiedelung eigener Art

Sie passt auch zum Worpsweder Durchschnittsbesucher, der mit seinem Elektrofahrrad leicht wackelig über die Bergstraße manövriert. Wird das legendäre Worpswede gerade zur Pensionopolis? Nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten gibt es Kräfte, die sich der Musealisierung entgegenstemmen.

Ihre Zentrale ist das „Haus 6“ an der Findorffstraße – benannt nach jenem „Moorkolonisator“, der im 18. Jahrhundert die Besiedelung der Region vorantrieb. Eine Besiedelung eigener Art unternahm ein siebenköpfiges Künstlerkollektiv in den vergangenen Jahren. Mit vereinten Kräften hat man ein altes Straßenhaus erhalten und mehrere Atelierräume geschaffen. Geheizt wird mit Holzöfen, getrunken unten in der kollektiv bewirtschafteten Bar – ist das die Entsprechung zu dem, was um die Jahrhundertwende das Künstlerzimmer im „Ristorante Da Angelo“ war, in dem sich Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker trafen?

Hier trifft sich die junge Kunstszene

Je­den­falls trifft sich hier heute die junge Worpsweder Künstlerszene. Man spricht über Ausstellungsmöglichkeiten und Stipendien, aber auch über die schwierigen Zustände in den Kitas. Das Künstlerleben in der Provinz ist nicht nur idyllisch – und doch findet man hier leichter Atelierräume als in Berlin. Anna Heydel, visuelle Künstlerin und „Haus 6“-Mitglied, steht auf ihrer kleinen Terrasse vor verwildertem Garten und spricht von der sie inspirierenden „Weite“ der hiesigen Natur.

Beim „Offenen Atelierwochenende“ macht sie nicht mit, weil sie es unverständlich findet, dass Künstler dafür bezahlen müssen, Teil des Programms zu sein. Auch Franziska Hofmann hält die Türen ihres Ateliers geschlossen. Die Chemnitzer Malerin gehört zu einer Gruppe, die eine Produzentengalerie betreibt. Ob sie damit der alten Worpsweder Kollektividee entspreche? Hofmann wiegelt ab, nur nicht zu viel Mythos.

Das Leben in Worpswede

Das Leben an diesem Ort, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so bekannt ist, als wäre hier eine entscheidende Schlacht geschlagen worden, hat an paradigmatischer Kraft verloren. Vor einigen Wochen ist mit Uwe Häßler einer der letzten altvorderen Worpsweder Maler gestorben. Die Frage, was dieser Ort in Zukunft sein will, wenn nicht nur Museum, wird sich bald stellen. Jene „versunkene Glocken-Stimmung“, die Paula Modersohn-Becker bei ihrem ersten Besuch hier empfand, spürt man auch heute.

Görlitz als bedeutende Stadt des Expressionismus

In der Görlitzer Nikolaikirche

Unerhört war der Expressionismus, als er sich vor rund 100 Jahren, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, in Görlitz etablierte. Revolution, neue Republik und Wirtschaftskrise zwangen die überwiegend konservative Bürgerschaft der Neißestadt, sich politisch und kulturell neu zu orientieren. Zumindest für einen Teil vermochte der Expressionismus, die entstandenen Lücken zu füllen.

Zur gleichen Zeit begannen sich die Görlitzer Künstler besser zu organisieren und regelmäßig gemeinsame Ausstellungen zu veranstalten. Der Expressionismus, der bisherige Konventionen hinter sich ließ, neue Freiheiten auslotete, sich aber auch einen skeptischen Blick auf die Gegenwart bewahrte, wurde für sie zum Ausdruck einer geistigen, politischen und kulturellen Erneuerung, die ganz Deutschland und so auch Görlitz erfasst hatte.

Zwischen Dresden und Breslau/Wrocław gelegen, ist Görlitz seit mehr als einhundert Jahren ein spannungsreicher Ort der Künste. Das spiegelt die Galerie der Moderne mit Werken der wichtigsten Künstlerinnen und Künstler der Neißestadt und Referenzwerken überregional bekannter Meister wider.

Malerei, Bildhauerei, Grafik und angewandte Künste des 20. und 21. Jahrhunderts bilden die Vielfalt der künstlerischen Positionen und Stilrichtungen ab. Schwerpunkte der Ausstellung im 3. Obergeschoss des Kaisertrutzes sind Impressionismus und Jugendstil, Expressionismus in Görlitz, Die Neue Sachlichkeit, Landschaftsmalerei der 1920er- und 1930er-Jahre, Kunst in der Zeit des Nationalsozialismus, Kunst in den Jahren der DDR und schließlich Kunst der Gegenwart.

In der breit gefächerten Landschaft der Kunstschaffenden in und aus Görlitz zählt der Maler, Grafiker und Schriftsteller Johannes Wüsten zu den überregional bekannten Namen. Durch seine vielseitige Arbeit trug er selbst dazu bei, dass die hiesige Kunstszene in den Jahren der Weimarer Republik überregional Bedeutung erlangte.

Seinem künstlerischen Schaffen und dem Kreis weiterer mit ihm verbundener Persönlichkeiten ist ein separater Ausstellungsbereich gewidmet. Die Galerie der Moderne schlägt aber auch Brücken in unsere Zeit: Der Kunstfonds des Freistaates Sachsen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden stellt in der Galerie der Moderne wechselnd ein Werk zeitgenössischer Kunst aus Sachsen aus.

Görlitz besaß von jeher etwas, das sich weder erwerben noch beschreiben läßt, jene Atmosphäre, in der der Künstler sich wohl fühlt.

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