Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 markierte auch einen Wendepunkt für das jüdische Leben in Deutschland. Nach Jahrzehnten der Trennung unter zwei unterschiedlichen politischen Systemen keimte die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes und angstfreies jüdisches Leben in einem geeinten Land auf. Die FAZ beleuchtete in ihrer Serie „Einig Vaterland?“ die unterschiedlichen Entwicklungen der jüdischen Zeitgeschichte in Ost- und Westdeutschland (FAZ, 09.11.2024).
In der DDR hatte sich eine kleine, aber dennoch präsente jüdische Gemeinschaft erhalten. Geprägt von den Erfahrungen des Holocaust und der staatlich verordneten Erinnerungskultur der DDR, lebten viele Juden in der DDR eher zurückgezogen. Die staatliche Überwachung durch die Stasi erschwerte zudem die freie Entfaltung jüdischer Kultur und Religion. Nach dem Fall der Mauer öffneten sich neue Möglichkeiten zur Vernetzung mit jüdischen Gemeinden im Westen und international.
In Westdeutschland hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine größere jüdische Gemeinschaft etabliert, unterstützt durch Zuwanderung und den Aufbau jüdischer Institutionen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Antisemitismus war ein zentraler Aspekt des jüdischen Lebens in der Bundesrepublik. Die Wiedervereinigung brachte die Herausforderung mit sich, die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven der jüdischen Gemeinschaften in Ost und West zu vereinen.
Die Jahre nach 1990 waren geprägt von einem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Ostdeutschland. Synagogen wurden restauriert, jüdische Kulturzentren eröffnet und jüdische Gemeinden neu gegründet. Die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, wie vom Runden Tisch in der DDR beschlossen und später von der Bundesrepublik fortgeführt, veränderte die demografische Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und trug zur Revitalisierung bei (bpb, 03.01.2022).
Trotz der positiven Entwicklungen blieb der Antisemitismus eine ernste Bedrohung. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 machte die Vulnerabilität jüdischen Lebens in Deutschland deutlich und führte zu einer intensivierten Debatte über Sicherheitsmaßnahmen und den Kampf gegen Antisemitismus. Wie der SWR berichtete, führten die Hamas-Angriffe im Oktober 2023 zu erneuten Verunsicherungen und Ängsten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland (SWR, 09.09.2024). Die Diskussionen über die Rolle von Israel und den Umgang mit Antisemitismus in der deutschen Kulturlandschaft wurden, wie Stella Leder vom Institut für Soziale Plastik feststellte, durch die Ereignisse weiter verschärft (SWR, 07.10.2024).
Die Geschichte des jüdischen Lebens in Deutschland nach der Wiedervereinigung ist eine Geschichte von Hoffnung, Wiederaufbau und Integration, aber auch von anhaltenden Herausforderungen im Kampf gegen Antisemitismus und für ein sicheres und selbstbestimmtes jüdisches Leben. Die Frage nach einem „Einig Vaterland?“ bleibt im Kontext des jüdischen Lebens in Deutschland komplex und vielschichtig, wie auch Alfons Pieper im Blog der Republik aufzeigte (Blog der Republik, 02.10.2018).
Die Parole "Wir sind ein Volk", die während der Montagsdemonstrationen gerufen wurde, spielte eine wichtige Rolle im Prozess der Wiedervereinigung. Ursprünglich als Appell zur Einheit von Bürgern und Sicherheitskräften gedacht, entwickelte sich der Slogan zu einem Symbol für den Wunsch nach einem geeinten Deutschland (Wikipedia, "Wir sind ein Volk"). Die spätere Verwendung des Slogans "Deutschland einig Vaterland", entnommen der DDR-Hymne, unterstrich diesen Wunsch nach nationaler Einheit.
Die Herausforderungen und Erfolge der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1990 spiegeln die komplexen Prozesse der deutschen Wiedervereinigung und die anhaltende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wider.