„Mathematik hat diese Schönheit.“ Christiane Benz, Professorin für Mathematikdidaktik an der PH Karlsruhe, strahlt. „Wenn ich Strukturen erkannt habe, finde ich sie an vielen anderen Stellen wieder, in schönen Mustern.“ Benz forscht zur frühen mathematischen Bildung. Sie erklärt: Wenn Grundschüler wüssten, wie man die Zahlen bis zehn zerlegen könne, dann wüssten sie, dass neun acht und eins ist oder sieben und zwei. „In der zweiten Klasse lernen sie dann das Stellenwertsystem: dass sich etwa 72 aus siebzig und zwei zusammensetzt und dass man die Siebzig als sieben Zehner sehen kann.“ Dann könnten sie mit Zehnern rechnen wie mit Einern. „Und haben fast die gesamte Grundschulmathematik in der Tasche – ist das nicht faszinierend?“, so Benz im Interview mit der F.A.Z..
Tatsächlich scheitern viele Schüler an Mathematik. 24 Prozent der 15-Jährigen erreichen nicht die Mindeststandards für den mittleren Schulabschluss, wie der IQB-Bildungstrend 2018 zeigt. Woran liegt das?
„Verbesserungen der Unterrichtsqualität wird es vermutlich nur dann nachhaltig und breitenwirksam geben, wenn es gleichzeitig auch verbesserte Rahmenbedingungen gibt“, sagt Christoph Selter, Professor für Mathematikdidaktik an der Technischen Universität Dortmund, im Gespräch mit dem Deutschen Schulportal. Die Lehrkräfte stünden heute häufig vor großen Klassen und sollen auf die Lernenden individuell eingehen, gleichzeitig seien die Klassen viel heterogener geworden. „Immer mehr Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Unterrichtssprache. Wir dürfen nicht den Lehrkräften allein die Schuld für die Mathematikleistungen der Schülerinnen und Schüler geben.“
Für die Qualität des Mathematikunterrichts seien drei Punkte von zentraler Bedeutung: die kognitive Aktivierung, das formative Assessment und das Classroom-Management. „Kognitive Aktivierung“ bedeutet, dass alle Kinder jeglichen Niveaus zum Denken herausgefordert werden. Um das zu schaffen, braucht es das „formative Assessment“, das heißt: die Feststellung, wo jedes Kind gerade steht. Das bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Förderung. Beim „Classroom-Management“ kommt es darauf an, die Lernprozesse so zu organisieren, dass sie wirklich wirksam werden und möglichst wenig Zeit verschwendet wird.
Kognitive Aktivierung findet im Mathematikunterricht leider noch zu selten statt. Häufig müssen die Lernenden nur etwas ausrechnen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich machen. Auch die kontinuierliche Erfassung des Lernstands ist noch keine Realität. „Häufig müssen die Lernenden nur etwas ausrechnen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich machen“, so Selter. Viele Lehrkräfte setzen auf Klassenarbeiten und Zensuren allein. Die kontrollierende Leistungsbewertung nütze aber wenig für das Lernen. Klassenarbeiten werden immer dann geschrieben, wenn ein bestimmtes Stoffgebiet abgeschlossen ist. Wenn sich dann zeigt, dass ein Kind den Stoff nicht verstanden hat, ist es zu spät. In der nächsten Stunde kommt das nächste Thema dran, und es gibt keine Gelegenheit mehr, im Lernprozess auf die Schwierigkeiten einzugehen. Die Mathematik ist aber hierarchisch aufgebaut – wer die Addition nicht verstanden hat, wird danach auch die Multiplikation nicht verstehen, denn die ist ja ein wiederholtes Addieren, und so weiter. Wichtiger wäre es, regelmäßig im Unterricht zu schauen, wo die Kinder gerade stehen.
Was das Classroom-Management betrifft, ist für die Mathematik kritisch zu sehen, dass Lehrkräfte zunehmend auf die Dominanz freien selbstgesteuerten Lernens setzen. Die fachbezogene Kommunikation mit der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler untereinander bleibt dabei oft auf der Strecke. Aber gerade für die Mathematik ist das Lernen von- und miteinander sehr wichtig, denn genau diese Auseinandersetzung bringt die kognitive Aktivierung. Mathe können sich die Kinder in weiten Teilen nicht selbst beibringen.
Kinder denken anders als Erwachsene, sie haben andere Zugänge zu mathematischen Problemen. Wie können Lehrkräfte dieser Tatsache gerecht werden? Lange ging man davon aus, dass eine Lehrkraft dann gut ist, wenn es ihr gelingt, das eigene Wissen gut zu vermitteln. „Heute wissen wir, dass es nicht reicht, gut erklären zu können. Vielmehr ist die Lehrkraft Vermittler zwischen dem eigenen Fachwissen und dem Wissen des Kindes. Eine Lehrkraft ist dann gut, wenn sie in der Lage ist, zu sehen, wie der Schüler oder die Schülerin denkt“, sagt Selter. Auch wenn ein Ergebnis falsch ist, kann das, was sich das Kind dabei gedacht hat, durchaus sinnvoll sein. Wenn Vorschulkinder beispielsweise die Zahlenwortreihe aufsagen, dann geht das häufig so: „siebenundneunzig“, „achtundneunzig“, „neunundneunzig“, „hundert“, „einhundert“, „zweihundert“, „dreihundert“ usw. Man könnte meinen, dass die Kinder nichts verstanden haben von Zahlen, die größer sind als 100. In Wirklichkeit denken die allermeisten vernünftig. Denn im Hunderterraum wird der Einer immer zuerst genannt (sieben-und-dreißig), dieses Prinzip führt das Kind aus seiner Sicht logisch fort. Statt „einhundert“ sagen sie „einhundert“, so Selter.
Manche Kinder nutzen ihre Finger, um zu rechnen. Lange Zeit galt das als Zeichen für mangelnde Intelligenz. Doch das ist falsch. Kindergartenkinder von fünf bis sechs Jahren können einer Studie zufolge besser rechnen, wenn sie ihre Finger zu Hilfe nehmen, berichtet der „Spiegel“ unter Berufung auf eine Studie, die im Fachjournal „Child Development“ erschienen ist. Die Forscherinnen empfehlen daher, Kindern dieses Alters das Zusammenzählen mit den Fingern beizubringen, wenn sie es bislang nicht tun. Das verbessere ihre Rechenleistung deutlich.
Interessant ist auch der Einfluss des Alters der Mutter auf die Mathematikleistung der Kinder. Kinder älterer Mütter sind besser in Mathematik und sozial kompetenter als die jüngerer Mütter. Das ist Ergebnis einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB), über die die „Zeit“ berichtet. In der Studie wurde der Zusammenhang zwischen später Mutterschaft und kindlicher Entwicklung untersucht. Waren Mütter bei der Geburt jünger als 30 Jahre, erreichten die Kinder demnach größtenteils unterdurchschnittliche Testergebnisse in Mathematik. Kinder von Müttern, die bei der Geburt mindestens 30 Jahre alt waren, haben der Studie zufolge durchschnittliche oder leicht höhere Kompetenzen. Ähnliches gilt für das sozial-emotionale Verhalten der Kinder. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind dabei aber schwächer ausgeprägt.
„Die Befunde zeigen, dass sich Kinder deutlich besser entwickeln, wenn ihre Mutter bei der Geburt kein Twen oder gar Teenager ist“, sagte Mathias Huebener vom BIB. Mitautorin Susanne Schmid von der Universität Oldenburg wies auf den Zusammenhang zwischen der Förderung der Kinder und finanziellen Möglichkeiten hin. „Die Entwicklung von Kindern hängt wesentlich von der Lernumwelt ab, die sie in den ersten Lebensjahren im Elternhaus erfahren“, sagte sie.
Die Forschenden gaben verschiedene Erklärungsansätze an. Etwa gehe eine frühe Mutterschaft oft mit niedrigen Bildungsabschlüssen der Eltern und einem geringeren Einkommen einher. Bekommen Mütter ihr Kind später, könnten sie vorher höhere Abschlüsse erreichen und mehr Berufserfahrung sammeln, was eine förderliche Lernumwelt des Kindes begünstige. Einkommen, Bildungsniveau und Partnerschaftsstatus seien wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Kindes.
Ein weiterer Faktor sei das mütterliche Erziehungsverhalten, beispielsweise gemeinsame Aktivitäten mit dem Kind. Ebenfalls eine Rolle spielten das mütterliche Wohlbefinden und das Gesundheitsverhalten während der Schwangerschaft.
Die Studienergebnisse zeigten, dass die Rahmenbedingungen für junge Mütter nachhaltig verbessert werden müssten. Dazu gehörten verlässliche und öffentlich finanzierte Betreuungsangebote für Kinder. Dies könne jüngeren Müttern etwa ermöglichen, eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich abzuschließen.
In den vergangenen 30 Jahren wurden Mütter bei der Geburt des ersten Kindes immer älter. Während sie 1990 im Schnitt noch 24,5 Jahre alt waren, waren sie 2022 bereits durchschnittlich 30,8 Jahre.
Immer wieder ist auch von einem geschlechtsspezifischen Unterschied die Rede, wenn es um die Mathematikleistung geht. Doch eine neue Studie zeigt: Mädchen und Jungen haben die gleichen mathematischen Fähigkeiten. Das berichtet das Magazin „Cordis“ der Europäischen Union. Ein Wissenschaftlerteam fand heraus, dass die Gehirne von Jungen und Mädchen gleich aufgebaut sind und eine gleichwertige mathematische Begabung aufweisen. Das Forschungsteam verwendete einen Magnetresonanztomografen, um die Hirnaktivität von 104 Kindern im Alter zwischen drei und zehn Jahren zu messen, von denen 55 Mädchen waren. Es wurde ein Unterrichtsvideo angeschaut, das Konzepte der Mathematik wie Zählen und Addieren erläuterte. Das Team verglich daraufhin alle Ergebnisse.
Um die Hirnaktivität der Kinder mit der von Erwachsenen zu vergleichen, luden die Neurowissenschaftler 38 Männer und 25 Frauen ein, um sich dieselben Videos anzuschauen. Die Ergebnisse zeigen, dass es zwischen den Hirnfunktionen oder der Hirnentwicklung der Kinder keinen Unterschied gab. Die Gehirne der Jungen und Mädchen waren gleichermaßen aktiv, verarbeiteten die Informationen auf die gleiche Weise und offenbarten keine wesentlichen Unterschiede.
Das Team analysierte zudem die Ergebnisse eines von 97 Kindern im Alter zwischen drei und acht Jahren, von denen 50 Mädchen waren, durchgeführten Test der mathematischen Fähigkeiten. Beide Geschlechter zeigten unabhängig vom Alter eine gleich gute Leistung.
„Die Wissenschaft orientiert sich nicht am Volksglauben“, sagte die leitende Autorin Jessica Cantlon, Professorin für Entwicklungsneuropsychologie an der Carnegie Mellon University in den Vereinigten Staaten. „Wir sehen, dass sich die Hirnfunktionen der Kinder unabhängig vom Geschlecht ähneln, sodass wir hoffentlich die Erwartungen über die Leistungen von Kindern in der Mathematik neu ausrichten können.“
Werden Mädchen und junge Frauen von Gesellschaft und Kultur aufgrund vorgefasster Vorstellungen zu den mathematischen Fähigkeiten von den MINT-Disziplinen ferngehalten? Schnappen Kinder die unterbewussten Hinweise von Lehrkräften und Familien zu den Erwartungen an ihre Fähigkeiten auf?
„Die typische Sozialisierung verschärft kleine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, die zu einem Schneeball für unseren Umgang mit ihnen in Naturwissenschaft und Mathematik werden können“, erklärte Prof. Cantlon. „Wir müssen uns dieser Ursprünge bewusst werden, um sicherzustellen, dass wir nicht diejenigen sind, die geschlechtsspezifische Ungleichheiten verursachen.“
„Es ist nicht einfach so, dass Jungen und Mädchen dasselbe Mathematiknetzwerk auf die gleiche Weise nutzten, sondern dass sich Ähnlichkeiten im gesamten Gehirn offenbarten“, berichtete die leitende Autorin Alyssa Kersey, Postdoktorandenstipendiatin am Fachbereich für Psychologie der Universität Chicago, „Newsweek“. „Dies ist eine wichtige Erinnerung daran, dass der Mensch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweist.“
Die Forschung baut auf den Studienergebnissen von Prof. Cantlon und ihrem Team aus dem Jahr 2018 auf. Es wurden Testleistungsdaten von 500 Mädchen und Jungen untersucht. Im Hinblick auf deren frühe quantitative oder mathematische Fähigkeiten wurden keine Unterschiede festgestellt. Dies legte nahe, dass Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit gleichermaßen dazu fähig sind, mathematische Überlegungen anzustellen.
Quellen: