Weltweit beobachten Wissenschaftler einen dramatischen Rückgang der Insektenvielfalt. Lebensraumzerstörung, Klimawandel und Pestizide gelten als Hauptursachen. Schätzungsweise 40 Prozent der Insektenarten sind vom Aussterben bedroht, mit unabsehbaren Folgen für die Ökosysteme und die menschliche Ernährungssicherheit. Wie die FAZ am 25.10.2024 berichtete, zeigt eine neue Studie, dass die Rolle der Pestizide beim Insektensterben bisher möglicherweise unterschätzt wurde.
Forscher um Justin Crocker vom European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg haben in Laborversuchen nachgewiesen, dass Insektizide, Herbizide und andere Pflanzenschutzmittel Insekten auch in geringen Dosen negativ beeinflussen, selbst wenn die Tiere nicht unmittelbar sterben. Die Chemikalien wirken nicht nur gegen Schädlinge, sondern beeinträchtigen auch andere Insekten, wie die FAZ berichtet.
In ihrer in „Science“ veröffentlichten Studie testeten die Wissenschaftler den Einfluss von 1024 verschiedenen Pestiziden, darunter Insektizide, Herbizide, Fungizide und Pflanzenwachstumshemmer. Diese wurden einzeln und als Gemisch in drei verschiedenen Konzentrationen an Larven der Taufliege (Drosophila melanogaster) verfüttert. Die Konzentrationen und Mischungen entsprachen dabei realistischen Szenarien, wie sie in Deutschland bereits in der Luft nachgewiesen wurden (FAZ, 25.10.2024).
Die Entwicklung der Larven wurde gefilmt und die Überlebensrate nach zehn Tagen dokumentiert. Eine Kontrollgruppe von Taufliegenlarven wurde chemikalienfrei ernährt. Die Ergebnisse zeigten, dass 57 Prozent der getesteten Stoffe das Verhalten der Larven auch in geringen Dosen veränderten. Die Tiere krümmten oder kontrahierten sich, bewegten sich mehr oder weniger als die Kontrollgruppe. Die Wissenschaftler interpretieren diese Verhaltensänderungen als Zeichen von Stress, so die FAZ.
Schon geringe Konzentrationen von Ackerchemie könnten demnach die Entwicklung und Fortpflanzungsfähigkeit von unschädlichen oder sogar nützlichen Insekten beeinträchtigen. Auch wenn Nicht-Ziel-Insekten nicht direkt sterben, könnten die Chemikalien langfristig negative Auswirkungen haben: verlangsamte Entwicklung, veränderter Stoffwechsel, geringerer Fortpflanzungserfolg und kürzere Lebensdauer. Schrumpfende Populationen sind die Folge, wenn weniger Nachkommen überleben.
Ähnliche Versuche mit Raupen des Distelfalters (Vanessa cardui) und Larven der Stechmücke (Anopheles stephensi), zwei wirtschaftlich und ökologisch wichtigen Arten, bestätigten die Ergebnisse. Auch hier beeinflussten die Chemikalien das Verhalten der Insekten bereits in geringen Dosen (FAZ, 25.10.2024).
Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig, der nicht an der Studie beteiligt war, betont den weiteren Forschungsbedarf. Die Studie sei ein wichtiges Puzzlestück im Verständnis des Insektenrückgangs und zeige, dass realistische Umweltkonzentrationen von Pestiziden zu Verhaltensänderungen bei Insekten führen können. Die Folgen für Populationen und Lebensgemeinschaften müssten noch erforscht werden.
Christoph Scherber vom Zentrum für Biodiversitätsmonitoring in Bonn bezeichnet die Studie als überfällig und hofft auf Konsequenzen für die Zulassung von Pestiziden. Er fordert Tests von Pestizidkombinationen und ein Pestizid-Monitoring für Deutschland.
Rita Triebskorn von der Universität Tübingen sieht in der Methodik der Studie ein geeignetes Werkzeug, um die Umweltrisiken von Pestiziden vor der Zulassung zu bewerten und so zu einem nachhaltigeren Umweltschutz beizutragen.
Die Problematik des Pestizideinsatzes geht über den Insektenrückgang hinaus. Wie der Pestizidatlas 2022 aufzeigt, erkranken jährlich Millionen von Menschen an Pestizidvergiftungen. Chronische Krankheiten, Fehlbildungen und sogar Todesfälle werden mit Pestiziden in Verbindung gebracht. Besonders betroffen sind Menschen in Ländern des globalen Südens, wo der Anteil hochgefährlicher Pestizide oft besonders hoch ist und Schutzmaßnahmen unzureichend sind.
Auch die Belastung von Lebensmitteln mit Pestizidrückständen ist ein ernstzunehmendes Problem. Importe aus dem außereuropäischen Ausland können belastete Ware auf EU-Teller bringen. Das Zulassungsverfahren für Pestizide berücksichtigt zudem indirekte Folgen und Pestizidmischungen nur unzureichend.
Initiativen wie der Pestizid-Reduktionsplan Schweiz von Vision Landwirtschaft zeigen, dass eine deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes möglich ist. Langfristig ist eine pestizidfreie Landwirtschaft nicht nur wünschenswert, sondern auch machbar, wie verschiedene Studien und die Praxis von Bio-Betrieben belegen.
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