Der Online-Marktplatz Temu, der seinen Ursprung in China hat, hat in den letzten Monaten zunehmend an Bedeutung gewonnen und stellt eine ernsthafte Konkurrenz für den Branchenprimus Amazon dar. Die Plattform, die eine breite Palette an Produkten zu extrem niedrigen Preisen anbietet, hat in Deutschland und anderen europäischen Ländern für Aufsehen gesorgt. Im Jahr 2023 wurde Temu zur beliebtesten Shopping-App im Apple App Store, was auf das wachsende Interesse der Verbraucher an den Angeboten hinweist.
Ein entscheidender Nachteil, den Temu bisher im Wettbewerb mit Amazon hatte, waren die langen Lieferzeiten. Kunden in Deutschland mussten oft bis zu zwei Wochen auf ihre Bestellungen warten, da die meisten Verkäufer ihren Sitz in China hatten. Dies könnte sich jedoch bald ändern, da Temu seinen Marktplatz für europäische Verkäufer öffnet. Seit Juli 2024 können Händler aus verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich Deutschland, ihre Produkte auf der Plattform anbieten. Laut einer Sprecherin von Temu soll die Einbindung lokaler Verkäufer das Einkaufserlebnis verbessern, indem eine größere Auswahl an Produkten mit kürzeren Lieferzeiten angeboten wird.
Um möglichst viele Händler anzulocken, plant Temu, zunächst auf die Erhebung von Grundgebühren, Verkaufsprovisionen oder Gebühren für die Bewerbung von Angeboten zu verzichten. Diese Strategie könnte dazu führen, dass Temu den Druck auf die gesamte Branche erhöht und möglicherweise das Potenzial hat, das neue Amazon zu werden, wie Alexander Graf, Geschäftsführer der Softwarefirma Spryker, anmerkt.
Das Geschäftsmodell von Temu basiert darauf, dass die Plattform selbst keine Waren produziert, sondern als Marktplatz fungiert, auf dem Händler gegen eine Provision ihre Produkte verkaufen können. Die Händler sind für Lagerung und Versand verantwortlich, während Temu den Kundendienst und die Vermarktung übernimmt. Bisher wurden die Waren erst nach konkreter Nachfrage versendet, was zu den langen Lieferzeiten beitrug. Mit der Einbindung europäischer Händler könnte sich dies jedoch ändern, da diese ihre Produkte bereits vor Ort lagern könnten.
Graf schätzt, dass Temu bisher Waren bis zu 40 Prozent günstiger als Amazon anbieten konnte. Mit der Öffnung für europäische Händler könnte dieser Preisvorteil auf etwa 5 Prozent sinken, was Temu dennoch in eine wettbewerbsfähige Position bringen würde. Die Möglichkeit, schneller zu liefern, könnte zudem die Attraktivität der Plattform erhöhen.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die potenzielle Präsenz bekannter Marken auf Temu. Graf ist überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch größere Marken auf der Plattform vertreten sein werden. Kritiker, die argumentieren, dass Marken wie Puma nicht auf einer Billigplattform auftreten sollten, könnten sich irren, da ähnliche Bedenken auch gegenüber Amazon geäußert wurden.
Jochen Kritsch, ein weiterer Experte im Onlinehandel, äußert jedoch Bedenken hinsichtlich des Images von Temu und der damit verbundenen Marken. Er glaubt, dass die Plattform möglicherweise Schwierigkeiten haben könnte, etablierte Marken anzuziehen, da deren Image und Qualität in der Wahrnehmung der Verbraucher eine wichtige Rolle spielen.
Trotz des rasanten Wachstums sieht sich Temu auch mit Herausforderungen konfrontiert. Die Plattform steht in der Kritik, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Produkte und der Einhaltung von Sicherheitsstandards. Der europäische Spielwarenverband TIE hat kürzlich festgestellt, dass viele Produkte von Temu nicht den EU-Vorschriften entsprechen und in einigen Fällen sogar ein Sicherheitsrisiko darstellen. Diese Aspekte könnten das Vertrauen der Verbraucher in die Plattform beeinträchtigen.
Darüber hinaus wird erwartet, dass viele europäische Verkäufer, die bereits bei Amazon aktiv sind, die neuen Möglichkeiten von Temu nutzen, um Gebühren zu sparen. Dies könnte zu einem weiteren Preisdruck im Online-Handel führen und möglicherweise Amazons Gebührenstruktur beeinflussen.
Die Eröffnung des Marktplatzes für europäische Händler könnte Temu in eine noch stärkere Position im Wettbewerb mit Amazon bringen. Die Plattform hat das Potenzial, nicht nur als günstige Alternative zu fungieren, sondern auch als ernstzunehmender Mitbewerber im E-Commerce-Sektor. Die langfristigen Auswirkungen dieser Entwicklungen werden sich jedoch erst zeigen, wenn die neuen Strategien umgesetzt werden und die Verbraucher auf die Veränderungen reagieren.
Insgesamt bleibt abzuwarten, wie Amazon auf diese Herausforderung reagieren wird. Der US-Gigant hat bereits einen Marktanteil von 60 Prozent im deutschen Online-Handel und profitiert von Rekorderlösen aus dem Werbegeschäft. Die Konkurrenz durch Temu und ähnliche Plattformen könnte jedoch den Druck auf Amazon erhöhen, seine Strategien zu überdenken und möglicherweise Anpassungen vorzunehmen, um seine Marktstellung zu verteidigen.
Die kommenden Monate werden entscheidend sein, um zu beobachten, wie sich der Wettbewerb zwischen Temu und Amazon entwickelt und welche Auswirkungen dies auf die Verbraucher und den gesamten Online-Handel haben wird.
Quellen: F.A.Z., dpa, CNBC, OMR
