Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherige Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlungen auf Krankenhäuser für teilweise verfassungswidrig erklärt. Wie die F.A.Z. berichtet, verletze die strikte Regelung das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Gerichtspräsident Stephan Harbarth begründete das Urteil (mit fünf zu drei Stimmen) damit, dass Zwangsbehandlungen auch außerhalb von Kliniken zulässig sein müssen, wenn die Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen im Krankenhaus größer ist als in seiner gewohnten Umgebung. Eine angemessene medizinische Versorgung in der jeweiligen Einrichtung sei jedoch zwingend erforderlich. Mehrere Medien, darunter der Spiegel, berichteten über das Urteil. Verfassungsrichter Heinrich Amadeus Wolff legte ein Sondervotum ein, in dem er die unzureichende Datenlage zu den Folgen solcher Behandlungen kritisierte und vor einer Absenkung der Schutzstandards für Patienten warnte. Er plädierte dafür, im Zweifel auf Zwangsmaßnahmen zu verzichten.
Anlass des Verfahrens war der Fall einer Frau mit paranoider Schizophrenie, die in einer betreuten Einrichtung lebt. Ihr Betreuer hatte beantragt, ihr die verweigert eingenommenen Medikamente zu Hause zu verabreichen, um eine Retraumatisierung durch den Transport ins Krankenhaus zu vermeiden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte den Fall dem Verfassungsgericht vorgelegt, da er die bestehende Rechtslage für verfassungswidrig hielt. Wie die Tagesschau berichtet, sah auch der BGH die Grundrechte von Patienten verletzt, wenn Zwangsbehandlungen ausschließlich in Kliniken möglich sind. Die Behandlung in gewohnter Umgebung sei oft schonender. Das Verfassungsgericht schloss sich dieser Einschätzung an. Der MDR zitiert den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, der das Urteil scharf kritisiert und eine Aushöhlung des Patientenschutzes befürchtet.
Zwangsbehandlungen stellen einen gravierenden Eingriff in die Selbstbestimmung dar und sind nur in Ausnahmefällen zum Schutz vor erheblichen Gesundheitsschäden zulässig. Betroffen sind insbesondere Menschen mit Demenz, psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung, die notwendige Medikamente ablehnen. Das ZDF berichtet, dass jährlich schätzungsweise 4.000 Patienten ohne ihre Zustimmung zwangsbehandelt werden. Bisher war dafür ein stationärer Krankenhausaufenthalt vorgeschrieben. Das Handelsblatt berichtet, dass die Bundesregierung das Urteil nun prüfen will. Ein Vertreter des Justizministeriums hatte sich im Verfahren für die Beibehaltung der bisherigen Regelung ausgesprochen und vor einem „Dammbruch“ gewarnt.
Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber eine Frist bis Ende 2026 gesetzt, um eine neue Regelung zu erarbeiten. Bis dahin bleibt das bestehende Recht in Kraft. Das Gericht betonte, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen stets das letzte Mittel sein müssen und nur unter strengen Voraussetzungen angewendet werden dürfen. Wie BR24 berichtet, müssen die Einrichtungen, in denen die Behandlungen künftig stattfinden, nahezu Krankenhausstandard gewährleisten, um die medizinische Versorgung sicherzustellen.
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