October 3, 2024
Angriffe und Flüchtlingskrise im Libanon: Ein Überblick über die aktuelle Situation

In der Nacht zum Donnerstag, den 3. Oktober 2024, wurde ein Krankenhaus der Hisbollah im Zentrum von Beirut Ziel eines israelischen Angriffs. Die Detonation war in der gesamten Stadt zu hören. Das Gebäude des „Islamischen Gesundheitsausschusses“ befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Parlament und dem Sitz des Ministerpräsidenten. Die israelische Armee gab an, eine Kommandozentrale der Hisbollah getroffen zu haben. Wie die libanesischen Gesundheitsbehörden, die nicht der Hisbollah unterstehen, mitteilten, wurden bei dem Angriff mindestens neun Mitarbeiter des Krankenhauses getötet. Josep Borrell, der Außenbeauftragte der Europäischen Union, verurteilte den Angriff als „Verletzung des Völkerrechts“. Das Rote Kreuz berichtete wenig später von vier verletzten Sanitätern, die im Süden des Landes den Opfern eines israelischen Angriffs helfen wollten. Auch ein Soldat der libanesischen Armee kam ums Leben, obwohl sich die Streitkräfte nicht am Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel beteiligen und sich aus weiten Teilen des Landes zurückgezogen haben.

Seit zwei Wochen geht Israel massiv gegen die Hisbollah vor. Tausende Pager von Hisbollah-Mitgliedern wurden durch israelische Aktionen unbrauchbar gemacht, die Luftangriffe wurden verstärkt, und am vergangenen Freitag wurde Hassan Nasrallah, der Führer der Terrorgruppe, getötet. Kurze Zeit später überschritten die ersten israelischen Bodentruppen die Grenze, um eine „begrenzte, lokalisierte und gezielte“ Aktion durchzuführen, wie es seitens des israelischen Militärs zunächst hieß. Inzwischen haben sich diese Aktionen zu den – abgesehen von Gaza – intensivsten Luftangriffen aller Konflikte und Kriege der vergangenen zwanzig Jahre entwickelt, wie die britische Konfliktbeobachtungsorganisation Airwars berechnet hat.

Die israelische Luftwaffe hat in den vergangenen Tagen rund 4000 Ziele angegriffen. Etwa eine Million Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung Libanons, sind auf der Flucht. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der noch vor wenigen Tagen die Rückkehr der Menschen in ihre Häuser als Ziel ausgegeben hatte, spricht inzwischen nicht mehr von einer begrenzten Operation im Nachbarland, von dem aus die Hisbollah seit dem 8. Oktober 2023 etwa 1700 Raketen auf Israel abgefeuert, 30 Menschen getötet und 60 000 zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen hatte. Mittlerweile kündigt Netanjahu an, die Hisbollah vollständig „besiegen“ zu wollen. Bereits Ende vergangenen Jahres hatte er damit gedroht, „Beirut und den Süden Libanons in den Gazastreifen zu verwandeln“.

In Gaza kämpft Israel nun seit fast einem Jahr. Mehr als 40 000 Menschen wurden getötet, darunter viele Frauen und Kinder. Ein Sieg gegen die Hamas ist nicht in Sicht. Die Hisbollah ist nach Ansicht vieler Experten aus militärischer Sicht ein viel stärkerer Gegner. Sie entstand, nachdem Israel bereits 1978 und 1982 in den Libanon einmarschiert war, um die PLO zu vertreiben. Die nächste Invasion erfolgte 2006 und dauerte 34 Tage. Seitdem bereiten sich beide Seiten auf den nächsten Krieg vor.

Fast ein Jahr lang beschossen sich Israel und die Hisbollah gegenseitig mit Raketen. Eine Ausweitung des Konfliktes schien jedoch lange Zeit angesichts des riesigen Waffenarsenals der Hisbollah unwahrscheinlich: bis zu 150 000 Raketen und Projektile, die selbst Tel Aviv erreichen können. Nachdem es Israel jedoch gelungen war, mit den Pagern zunächst einen engen Kreis von Hisbollah-Mitgliedern zu verletzen und schließlich mit Drohnen- und Luftangriffen fast die gesamte militärische Führung zu töten, scheint die Hisbollah gerade viel schwächer als gedacht. US-amerikanische und israelische Geheimdienstler wollen herausgefunden haben, dass in den vergangenen Wochen die Hälfte des Hisbollah-Arsenals zerstört worden sei.

Ein vollständiger Sieg über die Hisbollah, wie ihn Netanjahu anstrebt, wäre für Israel jedoch wohl nur schwer zu erringen. Die Hisbollah hat ihre Waffen im ganzen Land verteilt, viele Raketen sind im Norden stationiert, in der Bekaa-Ebene, die für israelische Bodentruppen nicht so einfach zu erreichen ist. In den Bergen im Süden hat sich die Hisbollah mit Tunneln in die Felsen eingegraben, die durch Luftschläge nicht so einfach zu zerstören sind. In der Luft hat Israel zwar eine totale Überlegenheit, am Boden würde Netanjahus Armee von der Hisbollah bei einem Großeinmarsch aber ein verlustreicher Guerillakrieg aufgezwungen werden. Das israelische Militär bestätigte bereits den Tod von acht Soldaten.

Die Hisbollah verfügt wahrscheinlich über 30 000 Kämpfer und 20 000 Reservisten, viele von ihnen sind anders als die Hamas kriegserfahren, haben in Syrien an der Seite von Baschar al-Assad gekämpft. Die Gruppe verfügt nach Ansicht vieler Analysten über präzisionsgelenkte Raketen, manche davon mit Sprengköpfen von 500 Kilogramm Gewicht und einer Zielgenauigkeit von zehn bis 50 Metern, die mehr als 100 Kilometer weit fliegen könnten. Noch sind sie nicht benutzt worden, womöglich, weil die Paten der Hisbollah in Teheran noch hoffen, eine weitere Eskalation mit Israel zu vermeiden.

Zweimal schon musste sich Israel aus dem Libanon zurückziehen, ohne seine Ziele erreicht zu haben. Und wie auch in Gaza gibt es bisher zwar viele militärische Ziele, die durch den Krieg erreicht werden sollen – aber kein Szenario für danach.

Angesichts der schweren Kämpfe haben viele Länder begonnen, ihre Staatsangehörigen in Sicherheit zu bringen. Spanien, Griechenland, Zypern und Großbritannien bringen bereits ihre Staatsbürger mit Flugzeugen und Schiffen außer Landes. Deutschland hat Botschaftspersonal ausgeflogen und Staatsbürger, die medizinische Hilfe brauchen, aber noch keine Evakuierung begonnen. Die libanesische Regierung forderte die internationale Gemeinschaft auf, mehr Hilfe ins Land zu bringen, es fehle überall am Nötigsten. „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, um die Flüchtlinge unterzubringen“, sagte das Kabinettsmitglied Nasser Yassin.

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Quellen:

- https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-hisbollah-libanon-lux.VvQZMYwuSauHpVsEMmG2LD

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