September 30, 2024
Bedrohung der Artenvielfalt in Deutschland: Dringender Handlungsbedarf erkannt

Biodiversität in Deutschland: Ein Drittel aller Arten gefährdet

Die erste umfassende Bestandsaufnahme zur Biodiversität in Deutschland zeichnet ein alarmierendes Bild: Ein Drittel der untersuchten Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht oder in ihrem Bestand gefährdet. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Großstudie, die die Ergebnisse einzelner Untersuchungen bestätigt. Wie die F.A.Z. berichtet, befinden sich 60 Prozent der natürlichen und naturnahen Lebensräume, die nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) zu schützen sind, in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Die Populationen von Vögeln in der freien Landschaft sind in den vergangenen 40 Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen.

Besonders düster sieht es den Studienautoren zufolge für die Zukunft aus. Nahezu 70 Prozent wertvoller Biotope wie artenreiche Äcker, Hochmoore und feuchte Grünflächen gelten als langfristig gefährdet, 80 Prozent davon zeigen eine negative Entwicklungstendenz. Diese Ergebnisse sind Teil des „Faktenchecks Artenvielfalt“, der am Montag veröffentlicht wurde. Für den Bericht trugen Wissenschaftler aus knapp 80 Institutionen den aktuellen Wissensstand zur Biodiversität in Deutschland sowie Empfehlungen zur Bewahrung und nachhaltigen Nutzung biologischer Vielfalt auf rund 1100 Seiten zusammen.

Noch ist unklar, wie sich die Veränderungen der biologischen Vielfalt auf sogenannte Ökosystemleistungen auswirken, also auf den Nutzen der Natur für den Menschen. Dazu zählen etwa die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Eine umfassende Bilanz sei bislang nicht möglich, heißt es in der Studie. Ob die derzeitigen Verlustraten an ökologischer Vielfalt die Leistungsfähigkeit der Ökosysteme bereits schmälern, könne derzeit „nicht mit Sicherheit gesagt werden“, schreiben die Autoren. Experimente und gezielte Beobachtungen im Freiland hätten aber für Deutschland und Mitteleuropa gezeigt, dass artenreiche Ökosysteme stabiler und leistungsfähiger seien als artenarme Systeme. Gesichert sei außerdem, dass biologische Vielfalt dem Klimaschutz diene, da artenreiche Ökosysteme mehr Treibhausgase speichern könnten. Zudem fördere biologische Vielfalt nachweislich den Erosionsschutz, die Gewässerreinigung und die Bestäubung von Pflanzen.

Die Wissenschaftler fordern, Kennziffern der biologischen Vielfalt und ihrer Leistungen in die Gesamtbilanzen von Volkswirtschaften und Unternehmen einzubeziehen. Eine ökologisch-ökonomische Berichterstattung sei eine „wichtige Basis für politische Entscheidungen und Unternehmenssteuerung“. Positiv bewertet werden auch Rechtskonstruktionen wie eigene Rechte der Natur, die neue Klagemöglichkeiten gegen den Biodiversitätsverlust schaffen könnten.

Fehlende Instrumente für den Naturschutz sind laut der Studie nicht das Problem. „Wir haben in Deutschland und auch auf der europäischen Ebene im Grunde alle Instrumente, die wir brauchen“, sagte der Biologe und Studienmitautor Helge Bruelheide von der Universität Halle anlässlich der Vorstellung des Faktenchecks Artenvielfalt. Rechtliche und förderpolitische Instrumente seien jedoch teilweise nicht gut aufeinander abgestimmt. Zudem mangele es an einer konsequenten Umsetzung naturschutzrechtlicher Vorgaben. Vor allem aber werde deren potentielle Wirkung „stark eingeschränkt“ durch gegenläufige politische Maßnahmen, etwa in den Bereichen Energie, Verkehr und Landwirtschaft, heißt es in der Studie.

Die Autoren bewerten das Potential technischer Innovationen zwiespältig. Bisher hätten sich wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt häufig negativ auf die biologische Vielfalt ausgewirkt. Es gebe aber auch ermutigende Entwicklungen wie geprüfte Zertifizierungssysteme, digitale Anwendungen in der Landwirtschaft – etwa zur Steuerung von Düngung – oder Innovationen wie die Produktion von Dämmstoffen. „Viele neue Technologien sind jedoch noch in der Erprobung, und es ist ungewiss, inwieweit sie dem Verlust der biologischen Vielfalt entgegenwirken können“, schreiben die Autoren.

Naturverträgliches Wirtschaften ist den Autoren zufolge möglich, allerdings kaum unter den aktuellen Rahmenbedingungen. „Am vielversprechendsten für die biologische Vielfalt über alle Lebensräume hinweg ist die Extensivierung der Land-, Gewässer- und Meeresnutzung“, lautet eine ihrer Kernaussagen. Auch das Potential für „Wirtschaften mit der Natur“ sei noch längst nicht ausgeschöpft. Durch mehr Vielfalt bei Pflanzenarten und eine größere genetische Diversität lasse sich die Produktion von Agrarflächen sowie von Wäldern unter wechselnden Umweltbedingungen aufrechterhalten. Damit lasse sich auch das Ziel der EU-Biodiversitätsstrategie erreichen, auf 30 Prozent der Landfläche vorrangig die biologische Vielfalt zu schützen. Das werde man kaum schaffen, wenn man nur auf die Ausweitung streng geschützter Gebiete setze.

Quelle: F.A.Z.

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