19.10.2024
Stillen und die gesellschaftlichen Erwartungen

Stillen ist das Beste für Ihr Baby. Ich stehe in der Drogerie vor dem Regal mit der Babynahrung, und aus jedem Fach, von jeder Säuglingsnahrungsmilchpulver-Packung, brüllt mich dieser Satz an: „Stillen ist das Beste für Ihr Baby. Deshalb sollte so lange wie möglich gestillt werden.“ Sowohl auf der Zwanzig-Euro-Nahrung steht das als auch auf der für 2,50. Stillen ist das Beste für Ihr Baby.

In Sätze gegossene Ohrfeigen für Frauen wie mich. Batsch, Batsch. Ich kann, darf und will nicht stillen. Selbst die Hebamme war erleichtert, als ich den Kopf geschüttelt habe. Ich wiege etwas mehr als einen Zentner, in der Woche nach der Geburt habe ich noch drei Kilo abgenommen. Wenn ich stillen würde, wäre ich jetzt schon nicht mehr da.

„Freuen Sie sich doch!“, rief die Frau, die damals in der Maria Heimsuchung neben meiner weinenden Mutter lag, die dasselbe Problem hatte. Die andere Frau hatte gerade ihr drittes Kind entbunden. „Freuen Sie sich!“, rief sie. „Was glauben Sie, was das für eine Erleichterung ist!“

Wenn ich stillen würde, könnte ich nicht weiterarbeiten, weil ich mich auf nichts anderes als das Baby konzentrieren könnte, Paul könnte nicht die volle Elternzeit nehmen. Er und ich würden uns überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen, uns total voneinander entfremden. Er würde sein Baby nicht aufwachsen sehen, weil er ständig arbeiten müsste …

Wie das eben bei jungen Familien heutzutage so ist, die versuchen müssen, alle sozialen, ökonomischen und zwischenmenschlichen Erwartungen zu erfüllen, die an sie gestellt werden.

Stillen ist das Beste für Ihr Baby, sagt die Gesellschaft. Du Rabenmutter, du selbstsüchtiges, karrieregeiles Luder. Willst deinen Körper für dich haben? Was fällt dir ein!

Am Anfang – man darf das eigentlich keinem erzählen, sonst nehmen sie uns sofort das Kind weg – haben wir ja auch noch die billige Nahrung gefüttert. Eine halbe Stunde standen wir in der Drogerie vor dem Regal mit der Babynahrung und verglichen die Inhaltsstoffe.

„Ich meine, wir haben doch Westen“, meinte ich zu Paul. „Und wir sind in Deutschland. Das muss doch alles irgendwelchen DIN-Normen entsprechen. Und ich meine“ – ich sah ihn an, das Baby zeichnete sich als Fröschlein im Tragetuch vor seinem Bauch ab – „wir haben doch auch beide die Flasche bekommen. Und aus uns ist auch was geworden.“

„Na ja“, sagte Paul und wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. „N’Systemadmin und ’ne Schriftstellerin. Aus dem Kind soll doch mal was Richtiges werden. Fußballer, Papst, SPD-Vorsitzende. Die ganze Welt steht dem Kind offen.“

Und dann waren wir das erste Mal bei der Kinderärztin und die meinte, es sei eigentlich alles super – abgesehen davon, dass wir das Kind falsch halten, falsch baden und zu dünn anziehen – aber was wir denn füttern würden.

„Na ja. Diese Eigenmarke“, murmelte ich.

Die Kinderärztin guckte streng.

„Stillen ist schon das Beste für Ihr Baby“, sagte ihr Gesichtsausdruck. Und ihr Mund fügte hinzu: „Also, wenn das mein Kind wäre, würde ich schon was Teures füttern.“

Batsch, Batsch! Dusch!

Du selbstsüchtige, geizige Ziege!

Seitdem gibt es für Paul und mich nur noch trocken Brot zum Mittag.

Wir wollen doch schließlich alle nur das Beste für unser Baby.

Ein glückliches Leben ohne Muttermilch ist möglich.

Ich habe es an anderer Stelle schon geschrieben: Er ist einfach nie ernsthaft krank. Nun kann ich natürlich nicht von ihm auf andere schließen. Aber ich möchte doch betonen, dass sich – aus meiner persönlichen und recht männlichen Sicht – keine Frau schlecht fühlen muss, wenn sie ihr Kind nicht stillt. Glauben Sie mir: Ein glückliches Leben ohne Muttermilch ist möglich.

Für mich als Vater war es übrigens auch ein gutes Gefühl, von Anfang an helfen zu können und nicht ausgeschlossen zu sein, wie das beim Stillen ja aus biologischen Gründen der Fall ist. Die ersten Fläschchen habe ich dem Zwerg gegeben, die Nacht- und Tagschichten konnten wir von Beginn an so aufteilen, dass meine Frau und ich in etwa gleich wenig Schlaf bekommen haben. Ich bin ohnehin eher Nachtmensch, meine Frau dagegen Frühaufsteherin. Insofern fühlte es sich richtig an.

Ich zweifele weder an der Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen noch an den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die den Artikeln zugrunde liegen. Ich kann Ihnen nur aus persönlicher Erfahrung sagen: Unser Sohn, der nie gestillt wurde, ist der gesündeste kleine Kerl, den ich kenne.

Ich möchte eigentlich stillen und ringe innerlich mit einem ersten Anflug von schlechtem Mama-Gewissen, weil ich schon jetzt insgeheim aufgeben will. In meinem Kopf die Rechenaufgabe, wie viel Milchnahrung aus der Drogerie pro Tag, pro Woche, pro Monat kostet. Dabei bin ich froh, stillen zu können – alles andere wäre bei meiner derzeitigen BH-Größe, K, auch die totale Verarsche. Und ich finde die Vorstellung, immer den passenden Snack dabei zu haben, der zudem nix kostet, außer dass ich esse, und das ist ja im Leben grundsätzlich ein guter Plan, praktisch. Auch meinen Busen in der Öffentlichkeit auszupacken, stört mich überhaupt nicht.

Schon während ich den Artikel lese, merke ich meinen inneren Widerstand. Nicht etwa weil ich meine, Brustmilch sei das Beste fürs Kind und die Bedürfnisse stillender Frauen*Männer sind deshalb nicht relevant oder dass Babymenschen tatsächlich nur mit Brustmilch groß und stark werden können. Für mich ist Stillen eine von mehreren unterschiedlichen Arten, ein Baby zu ernähren. Stillen ist Stillen, Fläschchen geben ist Fläschchen geben. Beides ist Liebe. Was mich stört, ist die Vorstellung, dass das Stillen an sich Ungleichberechtigung fördert. Diese Meinung teile ich nicht. Machtstrukturen, in diesem Fall sexistische, führen zur ungleichen Verteilung von Sorgearbeit. Ich finde, hier wird Gleichheit mit Gleichberechtigung verwechselt. Am Telefon erzählt meine Mama dazu passend: „In den 50er- und 60er-Jahren war es normal, dass wir Fläschchennahrung bekommen haben. Die Tatsache, dass damals kaum gestillt wurde, hat Frauen nicht zu mehr Gleichberechtigung verholfen!“

Stillen ist zu Beginn, zumindest ist das meine Erfahrung, ein Vollzeitjob. Gerade am Anfang verbringe ich locker sechs Stunden am Tag damit, den Hunger und Durst des neuen Menschen zu befriedigen. Tags und nachts. Nicht anders als bei mir selbst folgt das Hungergefühl von Babymensch Apraku...

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