19.10.2024
Geschlechtergerechtigkeit in der neuen EU-Kommission: Herausforderungen und Chancen

Neue EU-Kommission: Viele Kandidaten, (zu) viele Männer

Die bevorstehende Neubesetzung der EU-Kommission steht im Zeichen eines genderpolitischen Dilemmas. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, hatte zu Beginn ihrer Amtszeit ein klares Ziel formuliert: eine ausgewogene Geschlechterverteilung im neuen Kommissarskollegium. Trotz dieser Absichtserklärung zeigen die bisherigen Nominierungen ein unübersehbares Ungleichgewicht zugunsten männlicher Kandidaten. Bis Ende August 2024 wurden bereits 16 Männer und lediglich sechs Frauen für die 26 zu besetzenden Posten vorgeschlagen.

Die Situation ist besonders bemerkenswert, da von der Leyen bereits in ihrer ersten Amtszeit 2019 die Mitgliedstaaten aufforderte, jeweils einen männlichen und einen weiblichen Kandidaten vorzuschlagen. Diese Forderung wurde jedoch von vielen Regierungen nicht ernst genommen. Derzeit scheinen die nationalen Regierungen erneut von der von der Leyens Bitte abzuweichen, was die Frage aufwirft, ob die EU tatsächlich auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Vertretung ist.

Hintergrund der Nominierungen

Die Nominierungsfrist für die neuen Kommissare endete am 30. August 2024. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten die 27 EU-Staaten ihre Vorschläge einreichen. Bisher haben 22 Staaten ihre Kandidaten bekannt gegeben, wobei der Großteil der Nominierungen männlich ist. Unter den bereits vorgeschlagenen Kandidaten befinden sich bekannte Namen wie Thierry Breton aus Frankreich und Valdis Dombrovskis aus Lettland, die beide erneut für einen Posten nominiert wurden. Dies wirft Fragen zur Diversität und Repräsentation innerhalb der EU auf.

Die Nominierungen sind nicht nur eine Frage der Geschlechterverteilung, sondern auch ein Spiegelbild nationaler Politiken und Interessen. Einige Staaten, wie Österreich, haben sich entschieden, nur einen männlichen Kandidaten vorzuschlagen, was die Bemühungen um eine paritätische Besetzung weiter untergräbt. In der aktuellen Liste der Nominierungen sind unter den 22 vorgeschlagenen Kandidaten 16 Männer und nur sechs Frauen, was zu einer potenziellen Dominanz männlicher Stimmen in der Kommission führen könnte.

Die Reaktion der EU-Staaten

Die Reaktionen der EU-Staaten auf von der Leyens Appell sind gemischt. Während einige Länder, wie Estland, bereits eine Frau für einen wichtigen Posten nominiert haben, ignorieren andere Staaten die Aufforderung weitgehend. Die irische Regierung hat beispielsweise in einem Brief an von der Leyen betont, dass es keine Verpflichtung zur Nominierung von zwei Kandidaten unterschiedlichen Geschlechts gebe. Dies zeigt, dass viele Mitgliedstaaten die Geschlechterparität nicht als Priorität ansehen.

Einige Analysten argumentieren, dass die Nominierungen von den nationalen politischen Interessen und Machtspielen beeinflusst sind. Die Entscheidung, welche Kandidaten nominiert werden, hängt oft von internen politischen Überlegungen ab, die nicht notwendigerweise mit den Zielen der EU-Kommission übereinstimmen. Dies könnte langfristig die Fähigkeit der Kommission beeinträchtigen, eine vielfältige und repräsentative Führung zu gewährleisten.

Die Rolle des EU-Parlaments

Das EU-Parlament wird eine entscheidende Rolle bei der Bestätigung der neuen Kommission spielen. Die Abgeordneten müssen die vorgeschlagenen Kandidaten in öffentlichen Anhörungen prüfen, bevor sie über die gesamte Kommission abstimmen. Diese Anhörungen bieten eine Gelegenheit, die Geschlechterverteilung zu hinterfragen und möglicherweise Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben, um sicherzustellen, dass die Kommission eine ausgewogene Vertretung aufweist.

Es gibt bereits Stimmen aus dem Parlament, die darauf hinweisen, dass die aktuelle Situation nicht akzeptabel ist und dass die Abgeordneten möglicherweise einige der männlichen Kandidaten ablehnen könnten, um die Geschlechterparität zu fördern. Diese Dynamik könnte zu einem Machtkampf zwischen der Kommission und dem Parlament führen, insbesondere wenn die Abgeordneten der Meinung sind, dass die Nominierungen nicht den Anforderungen an Diversität und Repräsentation entsprechen.

Ausblick und Herausforderungen

Die Herausforderungen, vor denen die neue EU-Kommission steht, sind vielfältig. Neben der Notwendigkeit, eine ausgewogene Geschlechterverteilung zu erreichen, muss die Kommission auch sicherstellen, dass sie in der Lage ist, die komplexen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der EU anzugehen. Die Nominierungen sind nur der erste Schritt in einem langen Prozess, der letztendlich die Richtung der EU-Politik für die kommenden Jahre bestimmen wird.

Die Frist für die Nominierungen ist abgelaufen, und die Kommission steht unter Druck, eine ausgewogene und effektive Führung zu gewährleisten. Die kommenden Monate werden entscheidend sein, um zu sehen, ob Ursula von der Leyen in der Lage ist, ihre Vision einer geschlechtergerechten Kommission zu verwirklichen oder ob die nationalen Interessen weiterhin den Vorrang haben werden.

Die Diskussion um Geschlechterverteilung in der EU-Kommission ist nicht nur eine Frage der Gleichstellung der Geschlechter, sondern auch ein Indikator für die politische Kultur und die Werte, die die EU verkörpert. Es bleibt abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament auf die Herausforderungen reagieren werden, die sich aus den aktuellen Nominierungen ergeben.

Die EU steht an einem Scheideweg, und die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, könnten weitreichende Auswirkungen auf die Zukunft der Union haben.

Quellen: FAZ, Kurier, ORF, Euractiv, Handelsblatt.

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