19.10.2024
Neuer Lehrplan in der Türkei: Religiöse Werte im Fokus der Bildung

Erdoğans neuer Lehrplan für eine noch frommere Jugend

Das neue Schuljahr in der Türkei beginnt mit einem Lehrplan, der die religiöse und nationale Erziehung in den Vordergrund stellt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat bereits seit mehreren Jahren das Ziel formuliert, eine „fromme Jugend“ heranzubilden. Mit dem neuen Curriculum, das in den Klassen eins, fünf und neun eingeführt wird, wird dieser Ansatz weiter verfolgt. In diesem Lehrplan kommt das Wort „Moral“ insgesamt 59 Mal vor, was die zentrale Rolle der moralischen Erziehung in der neuen Bildungsstrategie unterstreicht.

Der türkische Bildungsminister Yusuf Tekin hat erklärt, dass der Lehrplan auf „türkischen Werten“ und den „wegweisenden Moralvorstellungen“ der Regierung basiert. Dies bedeutet, dass die Erziehung nicht nur religiöse Inhalte, sondern auch nationalistische Elemente umfasst. Kritische Denkfähigkeiten scheinen in diesem neuen Ansatz nicht gefragt zu sein, was bei vielen Lehrern und Bildungsexperten Besorgnis auslöst.

Lehrergewerkschaften haben bereits zu Protesten aufgerufen, da sie der Meinung sind, dass der neue Lehrplan im Widerspruch zu den Prinzipien eines weltlichen, wissenschaftlichen und demokratischen Bildungsauftrags steht. Kadem Özbay, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, äußerte, dass man ein „religiöses Wörterbuch“ benötige, um den neuen Lehrplan zu verstehen. Die Gewerkschaft kritisiert insbesondere, dass im Fach Biologie die göttliche Schöpfung in den Mittelpunkt gestellt wird, während die Evolutionstheorie nur am Rande erwähnt wird.

Ein weiteres Beispiel für die Islamisierung der Bildung ist die Vorschulerziehung. In einem Kindergarten in der Provinz Sakarya wurden Kinder während des Fastenmonats Ramadan gezwungen, bis zum Mittag zu fasten. Zudem sollen Vorschulkinder lernen, wie man bei einem Begräbnis angemessen trauert und wie man ein Opfertier schlachtet, um das Wohlgefallen Allahs zu erlangen. Diese Maßnahmen zeigen, wie tief die religiösen Inhalte bereits in die frühkindliche Erziehung eingedrungen sind.

Erdoğan verteidigt den neuen Lehrplan vehement und betont, dass es nicht erlaubt sein dürfe, dass sich jemand zwischen die Kinder und die religiösen Werte stelle. Er sieht die Vermittlung dieser Werte als entscheidend für die zukünftige Gesellschaft an. Dies steht im Einklang mit seiner politischen Agenda, die stark auf konservativen und islamischen Werten basiert.

Die Einführung des neuen Lehrplans hat auch außenpolitische Implikationen. An den Schulen soll künftig die Doktrin von der „Blauen Heimat“ gelehrt werden, die besagt, dass die östliche Hälfte der Ägäis, einschließlich griechischer Inseln wie Rhodos und Lesbos, zur Türkei gehört. Diese Lehre könnte die bereits angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland weiter belasten.

Erdoğan regiert die Türkei seit über 21 Jahren und hat in dieser Zeit zunehmend autoritäre Tendenzen gezeigt. Die politische Landschaft ist stark polarisiert, und die Opposition sieht sich einer intensiven Verfolgung ausgesetzt. Nach den Kommunalwahlen, in denen die Regierungspartei AKP bedeutende Niederlagen einstecken musste, befürchten viele, dass Erdoğan versuchen wird, seine Macht durch noch stärkere Kontrolle über die Bildung und die Gesellschaft zu festigen.

Die Reaktionen auf den neuen Lehrplan sind vielfältig. Während die Regierung die Notwendigkeit einer religiösen Erziehung betont, warnen Kritiker vor den langfristigen Folgen für die Gesellschaft und die Bildung. Die Sorge, dass eine Generation von „seelenlosen Robotern“ herangezogen wird, die nicht kritisch denken oder hinterfragen kann, ist weit verbreitet. Diese Entwicklung könnte nicht nur die Bildungslandschaft, sondern auch die gesellschaftliche Zukunft der Türkei nachhaltig beeinflussen.

Insgesamt zeigt der neue Lehrplan, wie stark die politischen und religiösen Überzeugungen von Erdoğan in die Bildungspolitik eingreifen. Die Frage bleibt, wie sich diese Veränderungen auf die türkische Gesellschaft auswirken werden, insbesondere auf die junge Generation, die in einer zunehmend polarisierten und kontrollierten Umgebung aufwächst.

Die Diskussion um den neuen Lehrplan wird auch in Zukunft ein zentrales Thema in der türkischen Politik und Gesellschaft bleiben. Die Herausforderungen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, werden sowohl von der Regierung als auch von der Opposition weiterhin intensiv debattiert werden müssen.

Weitere
Artikel