October 4, 2024
Der Nutzen von Zusatzleistungen in der Reproduktionsmedizin kritisch beleuchtet

In fast jeder deutschen Schulklasse sitzt laut dpa mittlerweile rechnerisch ein Kind, das durch künstliche Befruchtung entstanden ist. Für die Eltern dieser Kinder ist der Weg zum eigenen Kind oft lang und steinig, mit vielen schwierigen Entscheidungen verbunden. In den Kinderwunschzentren stehen ihnen nicht nur verschiedene Befruchtungsmethoden zur Auswahl, sondern auch eine Vielzahl an sogenannten Add-ons. Diese Zusatzleistungen, wie zum Beispiel eine spezielle Aufbereitung der Spermien oder die Beobachtung des Embryos im Zeitraffer, versprechen eine höhere Erfolgschance, kosten aber oft viel Geld. Die Frage ist: Was bringen diese Zusatzleistungen wirklich?

Der Nutzen von Add-ons ist oft fragwürdig

Ulrich Knuth, Vorsitzender des Bundesverbands reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands (BRZ), äußert sich im Interview mit der Zeit skeptisch: „Im Prinzip kann man zusammenfassen: Die Add-ons bringen erwiesenermaßen nicht sehr viel.“ Für die Kliniken seien diese Leistungen jedoch lukrativ, da sie damit hohe Gewinne erzielen könnten.

Ein Problem sieht Knuth darin, dass in der noch jungen Disziplin der Reproduktionsmedizin viel ausprobiert und ungeprüft angewendet werde. „Jemand denkt sich etwas Schlaues aus, bei einer Patientin wirkt das, und dann wird es allen empfohlen, ohne dass das Verfahren in einer klinischen Studie untersucht wurde“, so Knuth gegenüber der Zeit. Oft würden erst Jahre später Studien zu diesen Verfahren veröffentlicht, da die Durchführung solcher Studien nach anerkannten Richtlinien extrem aufwendig sei.

Studien zeigen: Viele Add-ons bringen keinen Vorteil

Zu den Verfahren, deren Nutzen fragwürdig ist, zählt Knuth unter anderem Embryo-Glue, ein spezielles Medium, das dem Embryo nach dem Transfer das Anhaften an die Gebärmutterschleimhaut erleichtern soll, und Scratching, bei dem eine kleine Verletzung in der Gebärmutter die Einnistung verbessern soll. „Auch das ist auf der Liste: Hilft nicht“, resümiert er.

Auch das sogenannte Time-Lapse-Verfahren, bei dem tausende Fotos vom Embryo aufgenommen werden, um in einem Zeitraffervideo zu sehen, wie er wächst, bringt laut einer großangelegten Studie im Fachblatt „The Lancet“ keinen Vorteil. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass das Verfahren die Chance auf eine erfolgreiche Schwangerschaft nicht verbessert. „Dies zeigt, dass sich die theoretischen Vorteile fortschrittlicher Technologien nicht immer in verbesserten klinischen Ergebnissen niederschlagen“, sagt Erstautorin Priya Bhide von der Queen Mary University in London. Ihr Co-Autor David Chan weist darauf hin, dass das Geld besser nicht für jene Maschinen ausgegeben werden solle, welche den Embryo fotografieren, sondern für andere Laborgeräte, die wirklich einen messbaren Einfluss haben.

Individuelle Bedürfnisse der Patientinnen im Fokus

Der Reproduktionsmediziner Volker Ziller betont, dass es wichtig sei, die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen zu berücksichtigen. „Das ist wie in einer Autowerkstatt: Man braucht keine neuen Felgen, wenn der Motor stottert“, so Ziller. Es sei daher fragwürdig, wenn Kinderwunschzentren allen Paaren alle Add-ons anböten. Allerdings könne es sein, dass bestimmte Patientinnen, die zum Beispiel über einen niedrigen Spiegel des Hormons Progesteron verfügen, von einer Einnistungsspritze profitierten. Auch bei anderen Add-ons, wie zum Beispiel dem Time-Lapse-Verfahren, sieht er gewisse Vorteile.

Ziller betont, dass die überwiegende Mehrheit seiner Kolleginnen und Kollegen sicherlich nur Dinge durchführe, von denen sie inhaltlich überzeugt seien - auch wenn die Evidenz vielleicht nur schwach sei. „Die meisten Ärzte sind schon erst mal am Wohl ihrer Patienten interessiert.“

Die Psyche spielt eine untergeordnete Rolle

Für viele Paare sind die Besuche in Kinderwunschzentren sehr belastend. Die Schwangerschaftsrate pro Embryotransfer liegt bei etwa 31 Prozent, bei älteren Frauen noch weit darunter. Oft sind also viele Versuche nötig. „Deswegen suchen viele Menschen nach Lösungen“, sagt Ziller. „Die Leute greifen nach jedem Strohhalm. Nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Mediziner.“

Doch bessert sich die Schwangerschaftsrate, wenn man viel Geld für ein Add-on bezahlt und damit die Hoffnung verbindet, dass es deswegen klappt? „Der Effekt der Psyche ist erstaunlich niedrig“, erklärt Ziller. Relativ gute Daten gebe es für den umgekehrten Fall, wenn jemand während der Behandlung sehr gestresst sei: „Wenn der Embryo fit ist, dann schafft er es - egal, wie sehr sich die Patientinnen aufregen.“

Fazit: Add-ons kritisch hinterfragen

Die Entscheidung für oder gegen ein Add-on ist eine individuelle und sollte sorgfältig abgewogen werden. Es ist wichtig, sich von seinem Arzt oder seiner Ärztin ausführlich beraten zu lassen und sich über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Verfahren zu informieren. Studien zeigen, dass viele Add-ons keinen nachweisbaren Nutzen haben. In manchen Fällen können sie jedoch sinnvoll sein, um die Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung zu erhöhen.

Quellen:

    - https://www.zeit.de/news/2024-10/04/kuenstliche-befruchtung-was-bringt-all-das-zusatzangebot - dpa
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